- Brandenburg
- 50 Jahre Mauerbau
Folklore und Detektivspiel
Die Spuren der Berliner Mauer sind vielfältig – ebenso die Art der Erinnerung
Mitten in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul stoßen Touristen verwundert auf Reste der Berliner Mauer. Drei Segmente stehen auf dem dortigen Berliner Platz, gleich neben einer nostalgischen Gaslaterne aus dem Berliner Tiergarten und einer quietschbunten »Buddy Bär«-Skulptur. Die Mauer symbolisiert »die Hoffnung auf eine friedliche Vereinigung der koreanischen Halbinsel«, verrät eine Widmung. Ein bisschen ist das Ensemble aber einfach deutsche Folklore, die als Fotomotiv dient. Ein halbes Jahrhundert nachdem die Mauer als Grenzsicherung mitten durch Berlin gebaut wurde, sind ihre Reste in aller Welt begehrt. Etwa 500 Einzelstücke sind über den Globus verstreut. Doch welche Spuren hat sie an dem Ort hinterlassen, den sie 28 lange Jahre teilte? Wie wird sich ihrer dort erinnert, wo Menschen bei Fluchtversuchen ihr Leben ließen?
In Berlin ist nicht viel übrig von dem ausgeklügelten Grenzsystem, das die Welt in Freund und Feind trennen sollte. Im Freudentaumel der Wiedervereinigung war klar: »Alle wollten die Mauer so schnell wie möglich los werden«, sagt der Kunsthistoriker Axel Klausmeier. Er ist Direktor der Stiftung Berliner Mauer und ihrer Gedenkstätte in der Bernauer Straße. Den ersten Impuls – die Mauer muss weg! – kann er verstehen. »Das ist wie bei einem Häftling, der entlassen wird. Der legt zuerst seine Sträflingskleidung ab.«
Die Touristen würden gerne mehr von dem ehemaligen Zwangskleid sehen. Über die Doppelreihe Pflastersteine, die den Grenzverlauf im Stadtbild markiert, laufen die meisten achtlos hinweg. Ein japanisches Ehepaar hat den Streifen gerade entdeckt und bleibt stehen. »Berliner Mauer 1961-1989« lesen sie auf der Messingplatte. Der Mann macht ein Foto, Gänsehaut gibt es nicht.
Das Gedenken an die Mauer kam erst Jahre nach ihrem Fall in Schwung. Zwar gab es schnell Stimmen, die mahnten: Wir brauchen die Mauer noch. Doch die Rufe der Empörten waren zunächst lauter. Klausmeier erinnert sich. »Das ist doch kein Denkmal!«, lautete der Einwand, wenn es um den Erhalt der Reststücke ging. »Das ist ein Objekt der Schande, der Trennung und des Leids.«
Heute gibt es in Berlin noch drei Orte, an denen Abschnitte der bekannten Mauer der vierten Generation am Originalstandort erhalten sind. An der East-Side-Gallery am Friedrichshainer Spreeufer, an der Niederkirchnerstraße in Stadtmitte und in der weiter nördlich gelegenen Bernauer Straße. Auch von der weniger robusten Hinterlandmauer, die den »Todesstreifen« begrenzte, sind Reste geblieben, etwa am Grenzübergang Bornholmer Straße. Doch dass es mehr als eine Mauer gab, gehört bei den Besuchern nicht zum Allgemeinwissen.
»Hinterlandmauer?«, fragt eine junge Kanadierin ungläubig. Gerade hat sie sich an der East-Side-Gallery fotografieren lassen und ein Betonbild geküsst. Die East-Side-Gallery ist die Diva der Mauerreste. Auf 1,3 Kilometer Länge präsentiert sie ihr schreiend buntes Kleid. Nach der Grenzöffnung 1990 haben internationale Künstler die Ostseite bemalt, 2009 wurden die gut hundert Bilder saniert. Nun strahlen sie in seltsam unhistorischer Perfektion. Bei dieser Freiluftgalerie hat der Ausstellungscharakter den historischen überlagert.
Geschichtliche Hinweistafeln fehlen. Darum erfährt die Kanadierin nicht, dass es sich bei Berlins bekanntestem Mauerrest gar nicht um die »richtige« Mauer handelt. Der Funktion nach war die heutige East-Side-Gallery eine Hinterlandmauer. Sie sieht nur wie die vordere Grenzmauer aus, weil sie – ganz untypisch – aus den gleichen Elementen erbaut wurde. Die Grenze an dieser Stelle war die Spree.
Viele Touristen wollen hier jedoch vor allem vor witzigen Motiven posieren. Sie interessiert das hübsche Gesicht der Grenze, so wie es sich in die Köpfe der Weltöffentlichkeit eingebrannt hat: eine Leinwand des kreativen Widerstands. Die graffitibesprühten Segmente von einst sind längst als Kunstwerke verscherbelt, doch sie prägen noch immer die Vorstellung von der Mauer – obwohl 90 Prozent unbemalt waren.
Das Souvenirgeschäft funktioniert nach wie vor nur mit bunten Mauerstücken richtig gut. Alwin Nachtweh hat solche Reste noch kistenweise in seinem Keller stehen. Nachtweh ist ein »Mauerspecht«, er gehörte zu den ersten, die im November 1989 mit Hammer und Meißel Stück für Stück aus dem Beton schlugen und an Touristen verkauften. »Überall wo ein bissel Farbe war, wurde geklopft«, beschreibt er das emsige Treiben von damals. Das Ergebnis klafft heute unübersehbar in der Stadtmitte. Der Mauerabschnitt in der Niederkirchnerstraße ist mit mannsgroßen Löchern durchsetzt. Im Vergleich zur East-Side-Gallery sieht er grau und schäbig aus.
Wenn man die Fotos betrachtet, die Alwin Nachtweh auf seinem Küchentisch ausbreitet, wundert das kaum. Auf einem ist ein Schaufenster zu sehen, in dem ein Schild die Ware des Tages anpreist: »Sichern sie sich ihr ganz persönliches Stück Mauer. Hammer ab 1,95, Meißel ab 2,95«. Da der Beton für die Touristen zu hart war, um Brocken heraus zu stemmen, wurden die Mauerspechte zu Dienstleistern und das Mauergedenken zum einträglichen Gewerbe.
»Uns war von Anfang an klar: Die nächste Generation wird danach lechzen«, sagt der 62-Jährige. Der Großteil seines Bestands liegt im kalifornischen Wendemuseum in den USA. Weil ihn Berlin nicht haben wollte. Nachtweh ärgert das. Es stört ihn auch, dass die Hauptstadt historische Substanz dem Abriss überließ, statt ein Stück Grenzanlage für die Nachwelt zu erhalten.
Dass die Grenze ein gestaffeltes System war, ist nur noch an der Gedenkstätte Berliner Mauer zu sehen. Seit 1998 wird sie zum zentralen Gedenkort ausgebaut, im nächsten Jahr könnte sie fertig sein. Von einer Aussichtsplattform blicken Besucher auf einen 80 Meter langen Abschnitt. Ein Grenzturm steht im fein geharkten Sand, es gibt eine Lichttrasse und den Kolonnenweg. Daneben schlendern Menschen über den grünen »Todesstreifen«.
Künstlerisch gestaltete Erinnerungsorte sind hier mit der originalen Grenzanlage verschmolzen. Rostrote Stahlstreben setzen den Verlauf der Mauerreste fort. Es scheint, als hätte die Mauer an diesen Stellen ihren schweren Betonmantel abgelegt, um das Staunen über ihr Verschwinden hervorzulocken, das sich an den Orten, wo sie spurlos getilgt ist, nicht einstellen will. Der Weg mitten durch die imaginäre Mauer ist beliebt. Wer hier zwischen den Pfeilern hindurch tritt, fühlt sich für einen Moment als Zeitreisender, mit der Fähigkeit durch Wände zu gehen.
Die Soziologin Sybille Frank von der TU Darmstadt wünscht sich mehr solche Erfahrungen. Sie fordert: Die Mauer muss erlebbar werden. Die neue Gedenkstätte sei ein Schritt in die richtige Richtung. Trotzdem findet sie das deutsche Gedenken zu trocken. Berlin solle sich um einen emotionaleren Zugang zur Geschichte bemühen und nicht vor Rekonstruktion zurückschrecken. »Wichtig ist die authentische Erfahrung, die funktioniert auch mit einer Kopie.« Das nachgebildete amerikanische Patrouillenhaus am Checkpoint Charlie sei nicht umsonst ein Publikumsmagnet. Schauspielstudenten, wie sie dort als Soldaten posieren, könnten auch Szenen der Mauergeschichte nachspielen, sagt Frank. Also ein Disneyland der Erinnerungskultur? Ihr gefällt der Vorwurf nicht. Gerade um das zu vermeiden, dürfe der Staat den privaten Anbietern das Feld nicht überlassen.
Ein Erlebnis ganz anderer Art ist es, die übersehenen Spuren des Grenzsystems wahrzunehmen. Eine detektivische Aufgabe, denn sie sind mit dem Stadtbild verschmolzen. Von den 155 Kilometern Sperranlagen um West-Berlin ist nur noch ein Prozent erhalten. Vor etwa vier Jahren wurden die Reste in dem Projekt »Denkmallandschaft Berliner Mauer« von der Brandenburgischen TU Cottbus dokumentiert. 1800 Objekte und ihre Funktionen sind auf navigierbaren Karten im Internet dargestellt. Darunter verwachsene Zäune und schiefe Pfosten, Fahnenmaste und Postenhäuschen.
Von der einstigen Grenze ist mehr geblieben als vermutet, nur ist vieles zu banal, um touristisch erschlossen zu werden oder den Ritterschlag des Denkmalschutzes zu erhalten. Hunderte dieser Zeitzeugen sind schon zerstört, schätzt Klausmeier, der an der Spurensicherung mitgearbeitet hat. Über einem Hauseingang nahe der Bernauer Straße hängt eine graue Lampe, wie man sie nur als Straßenbeleuchtung kennt. Mit ihr wurde der grenznahe Bereich ausgeleuchtet. Die Fenster im Erdgeschoss sind noch heute vergittert.
Andere Reste sind schwerer zu finden – wie das Stück Mauer, das bei Elisabeth S. im Garten steht. Die Rentnerin lebt in einem Gebiet, in dem die Mauer direkt hinter den Einfamilienhäusern verlief. »Hier war der Stacheldraht, der stand unter Strom«, sagt Elisabeth S. und zeigt auf die Stelle, an der ihre Gurken ranken. Dahinter lag streng bewachtes Niemandsland. Die 74-Jährige erzählt ganz unaufgeregt, wie jeden Monat der Keller nach Fluchttunneln durchsucht wurde. »Das war einfach so«, sagt sie. »Jetzt blicke ich nach vorne.«
Dort vorne, in der Zukunft, passiert vielleicht bald etwas Seltsames: Die Mauer könnte wieder aufgebaut werden. Zumindest teilweise. Sybille Frank glaubt, dass das Bedürfnis nach erlebbarer Geschichte siegen wird: »Ich kann mir vorstellen, dass private Anbieter früher oder später die Mauer rekonstruieren werden. Die Nachfrage gibt es.«
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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