Eine Revolte ist unwahrscheinlich
Laut Streetworkern wird es in Berlin keine Ausschreitungen wie in London geben, aber auszuschließen sind sie nicht
Wenn es nach Quasi-Apokalyptikern wie dem Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft Rainer Wendt geht, gibt es in Berlin an Brennpunkten eine ähnlich »explosive Mischung« wie in Großbritannien. Sprich: Solche Ausschreitungen wie auf der Insel seien auch in Berlin nur eine Frage der Zeit. Dieses Schreckensszenario entwerfen Leute wie Wendt natürlich nur, um danach schrill eine Aufrüstung des Sicherheitsapparates zu fordern. Dabei ist die Frage nach der Situation hierzulande durchaus berechtigt – auch wenn Medien sie meistens lediglich dann stellen, wenn es andernorts auf der Welt Ausschreitungen gegeben hat.
Doch wer könnte die Situation besser erklären als die Jugendlichen selbst und die Sozialarbeiter, die auf der Straße mit den jungen Menschen arbeiten? Der Verein Gangway, der langjährig Straßensozialarbeit in vielen Bezirken Berlins betreibt, lud deshalb gestern Jugendliche, Streetworker, aber auch Politiker und Journalisten ein, um über die Lage in Berlin zu diskutieren. Von den angeschriebenen Politikern erschien allerdings niemand, auch das Medieninteresse hielt sich in Grenzen, dafür hatten die Jugendlichen und Streetworker umso mehr zu berichten.
»Wir sind nicht Paris, wir sind nicht London und wir sind nicht Nordafrika«, stellte die Geschäftsführerin von Gangway, Elvira Berndt, gleich zu Beginn der Debatte fest. Dennoch gebe es auch in der Hauptstadt eine Menge Probleme, über die sich zu reden lohne.
Etwas überraschend erschien zunächst, dass die in den Medien ausführlich dargestellten Krawalle und Plünderungen in Großbritannien die Jugendlichen in Berlin offenbar gar nicht so stark aufwühlen. »Die Ausschreitungen in London spielen keine Rolle, weil die Jugendlichen viel mehr damit beschäftigt sind, wie man den hungernden Kindern in Somalia helfen kann«, erzählt Hüseyn Yoldas, der als Sozialarbeiter in Schöneberg arbeitet. 95 Prozent seiner Jugendlichen seien muslimischen Glaubens. Im laufenden Ramadan fasten sie und beschäftigten sich mit Religion. Dass es auch in Berlin zu Krawallen kommen könnte, hält Yoldas jedoch auch nicht für unmöglich. Schließlich hat es nach den rassistischen Morden von Solingen, Mölln und dem Pogrom in Rostock auch in der Bundesrepublik sehr angespannte Situationen gegeben.
Wie Yoldas halten viele der Jugendlichen und Sozialarbeiter von Gangway in der Runde Ausschreitungen oder gar eine soziale Revolte in Berlin für eher unwahrscheinlich, gänzlich ausschließen will sie aber auch niemand. Schlicht und einfach, weil soziale Dynamiken unvorhersehbar sind. »Es ist sehr leicht, Leute zu motivieren«, meint Benjamin. Der Jugendliche aus Altglienicke ist zudem davon überzeugt, dass, wenn wie in England ein Jugendlicher in Berlin von der Polizei erschossen würde, es auch hier schnell zu Ausschreitungen kommen könnte. Erst recht, wenn das Polizeiopfer ein bekannter Musiker wäre. So ein Funke wie ein Mord durch die Polizei würde reichen, um Krawalle auszulösen, das glauben auch viele andere in der Runde.
Aber auch so gibt es offenbar viel Unzufriedenheit in der Stadt. »Es gibt eine Menge Unmut seitens der Jugendlichen bezüglich fehlender Ausbildung und Arbeit«, bestätigt Olad Aden, der für das Weddinger Team von Gangway arbeitet. Zwar sei die soziale Situation in Städten wie New York ungleich härter, weil einige Jugendliche dort nicht versichert sind und auf Dächern schlafen, doch auch in Berlin werde das soziale Netz schwächer, hat Aden beobachtet.
Tatsächlich stellen viele der anwesenden Jugendlichen ihre Jobperspektiven als sehr schlecht dar. Dazu kommt die gesellschaftliche Ausgrenzung durch Debatten, wie sie der Ex-Bundesbanker und Finanzsenator Thilo Sarrazin oder auch Bundeskanzlerin Angela Merkel zum angeblich gescheiterten Multikulti-Modell führen. Alltägliche Nöte sind aber auch die massive Verbreitung von Casinos, die viele Jugendliche in die Spielsucht treiben, oder die ständige Sorge um die eigene Aufenthaltserlaubnis, die diejenigen Jugendlichen beschäftigt, die zwar hier geboren sind, aber keinen deutschen Pass besitzen. »Niemand hört uns zu«, bringt es Ebrahiem Said aus Wedding auf den Punkt.
Dass etwas grundsätzlich in der derzeitigen Diskussion schief läuft, glaubt auch Streetworker Stefan Schützler aus Treptow-Köpenick. Der Dialog mit Eliten aus Politik, Kultur und Medien fehlt aus seiner Sicht. Dabei wäre eine breite Debatte aller Schichten aus der Bevölkerung über die »Entmoralisierung« der Gesellschaft bitter nötig. »Moral und Schamgefühl müssen wieder eine Rolle spielen und nicht nur Gier und Habsucht, wie sie die Eliten seit 20 Jahren vorleben.«
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