Die Reichen sollten zahlen ...
Die wahren Hintergründe der Ermordung von Matthias Erzberger vor 90 Jahren
Um ihn für ihre Durchhaltepolitik zu Ende des Ersten Weltkrieges einzuspannen, erwog die Oberste Heeresleitung (OHL) im Frühjahr 1917, Matthias Erzberger ins Hauptquartier einzuladen, wo ihm Kaiser Wilhelm II. beim Frühstück das Eiserne Kreuz 1. Klasse verleihen und ihn beim Mittagessen zum Major der Reserve ernennen sollte. So dekoriert, sollte er als »Minister für Propaganda des Sieges« nach Berlin zurückkehren. Man hoffte, dass der Zentrumpolitiker dank seiner rhetorischen Begabung die Volksmassen für den Kampf bis zum siegreichen Ende mobilisieren könnte. Dieser von Oberst Max Bauer ausgeklügelte und von Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg sowie vom Kaiser abgesegnete Plan scheiterte jedoch am Widerspruch von Erich Ludendorff, Chef der Obersten Heeresleitung.
Die Schuldenlast des Krieges
Die OHL war es aber, die Erzberger auswählte, den unvermeidlich gewordenen Waffenstillstand am 11. November 1918 im Wald von Compiégne zu unterzeichnen. Eigentlich hätten Ludendorff und Hindenburg dies tun müssen, aber das überließen sie dem »Zivilisten« Erzberger. Die Generale wollten, so Willhelm Groener, »ihren Ehrenschild blank halten«. Als die erdrückenden Waffenstillstandsbedingungen bekannt wurden und Erzberger zur Unterzeichnung des ebenso harten Versailler Vertrages riet, schalt ihn die nationalistische Presse als »Fronvogt der Alliierten«, als »Erzverderber« und »Erzschlauberger«. Eines Tages würde die Menge »die Urheber ihres namenlosen Elends totschlagen wie tolle Hunde«, schrieb eine Zeitung. Die Mordhetze steigerte sich noch, als Erzberger im neuen Kabinett unter Reichskanzler Gustav Bauer (SPD) im Herbst 1919 daran ging, als Finanzminister der jungen Republik das für ihre Existenz notwendige Geld zu beschaffen.
Erzberger stellte sich die historische Frage, wer die riesigen finanziellen Lasten des Krieges, 153 Milliarden Mark, die noch nicht bezifferten Reparationsforderungen der Alliierten sowie die Kosten der Wiedereingliederung von über 13 Millionen Soldaten und Offizieren ins zivile Leben und die Umstellung der Wirtschaft von Kriegs- auf Friedensproduktion tragen sollte. Zugleich galt es, die einmalige Chance wahrzunehmen, die anachronistisch gewordene Steuer- und Finanzverwaltung des Reiches grundlegend zu modernisieren.
Erzberger konnte sich für seine tiefgreifende Finanzreform auf Vorarbeiten von SPD-Politikern und die Rückendeckung des sozialdemokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert und des Kanzlers Gustav Bauer stützen. Sie wollten die Arbeiter, die erbitterte Kämpfe für eine soziale Ausgestaltung der Weimarer Republik führten, nicht noch durch extreme Steuerbelastung verprellen, sondern ihre Identifizierung mit der jungen Demokratie erleichtern.
Mit der ihm eigenen Tatkraft ordnete Erzberger in einem Gesetzespaket die Steuererfassung und Finanzverwaltung neu. Den Kern der Reform bildeten die sogenannte progressive Einkommenssteuer, die Staffelung der Erbschaftssteuer und der Vermögenszuwachssteuer sowie die Einführung einer Grunderwerbs- und sogenannten Kriegssteuer. Diese direkten Steuern trafen vornehmlich die früher privilegierten Kreise. Kriegsgewinne sollten an die Staatskasse abgeführt werden. Gestützt auf ihre riesigen »Sachwerte«, liehen sie bei der Reichsbank große Summen aus und zahlten ihre Schulden bei Fälligkeit später mit einem Bruchteil des entwerteten Geldes zurück. So wurde die Inflation immer wieder angeheizt. Das »Reichsnotopfer« sah vor, alle privaten Vermögen über 5000 Mark mit einmaliger, in 30 Jahresraten zu zahlender Abgabe zu belegen, die zwischen 10 und 50 Prozent betragen sollte.
Obwohl korporative Vermögen wie Aktiengesellschaften nicht betroffen waren, schäumten die Mächtigen in Wirtschaft und Politik vor Wut. Die Reichsbank weigerte sich, die großen Vermögen zwecks steuerlicher Erfassung zu registrieren. Das Hauptmittel, um die Gesetze unwirksam zu machen, stellte jedoch die Inflation dar, mit der die Kriegsgewinnler in der Nachkriegszeit noch einmal unvorstellbare Profite scheffelten.
Mordhetze in der Presse
Erzberger beseitigte auch weitgehend die Reservatrechte der Bundesstaaten, die diese sich 1871 bei der Reichsgründung gesichert hatten, und stabilisierte die Finanzhoheit des Reiches. Waren den Ländern in Wilhelminischer Zeit etwa 60 Prozent des Steueraufkommens zugute gekommen, so standen ihnen jetzt nur 20 bis 25 Prozent zur Verfügung. Die Wogen der Empörung schlugen hoch, besonders in Bayern, seit Niederschlagung der Münchner Räterepublik ein Hort der Reaktion.
Erzberger hatte nicht nur die Kriegsgewinnler Stinnes, Kirdorf, Reusch und andere namentlich scharf angegriffen, sondern auch den früheren kaiserlichen Staatssekretär für Finanzen und damaligen führenden Deutschnationalen Karl Helfferich. Die Betroffenen beschuldigten Erzberger der Verquickung von Politik und Geschäft und unzulässiger Bereicherung. Helfferich veröffentlichte in der »Kreuzzeitung« eine Artikelserie »Fort mit Erzberger«, die auch als Broschüre massenhafte Verbreitung fand. Erzberger konnte nicht umhin, einen Beleidigungsprozess anzustrengen, der am 19. Januar 1920 begann und mehrere Wochen dauerte. Das Gericht verurteilte Helfferich zwar wegen übler Nachrede zu 300 Mark Geldstrafe, sah aber den Nachweis politischer Geschäftemacherei, der Unanständigkeit und politischer Tätigkeit zum Nachteil Deutschlands für erbracht an. Es erklärte Erzberger des sechsfachen Meineids für überführt. Das war das politische Todesurteil für den Minister, der noch am gleichen Tag, am 12. März 1920, zurücktrat. Der Prozess hatte, wie beabsichtigt, die gesamte Regierung diskreditiert; nicht zufällig brach am 13. März der Kapp-Putsch aus, der die Regierung Bauer zur Flucht nach Dresden und weiter nach Stuttgart trieb. Erzberger suchte Zuflucht in einem Kloster.
Die Pressehetze gegen Erzberger verfehlte nicht ihre Wirkung. Am 23. Januar 1920, unmittelbar nach Prozessbeginn, charakterisierte die »Tägliche Rundschau« den Minister zwar als »kugelrund, aber nicht als kugelfest«. Drei Tage später gab der Fähnrich Oltwig von Hirschfeld auf Erzberger zwei Revolverschüsse ab, als der das Gerichtsgebäude verließ. Eine Kugel verletzte ihn an der Schulter, die andere prallte glücklicherweise an der Taschenuhr ab. Das Gericht billigte dem Attentäter ehrenhafte Motive zu und verurteilte ihn lediglich wegen gefährlicher Körperverletzung zu einem Jahr und sechs Monaten Gefängnis.
Während die Reichspresse unisono den »sympathischen Eindruck« betonte, den der Täter mache, verhöhnte sie das Opfer. So schrieb die »Rheinisch-Westfälische Zeitung«, das Blatt der Schwerindustrie, dass es sich nur um einen »Fettschuß« gehandelt habe. Der »Arnswalder Anzeiger« schilderte unter der Überschrift »Wir wollen nicht heucheln« Enttäuschung über die Nachricht, dass für das Leben des Ministers nichts zu befürchten sei. Die Mordhetze flammte erneut auf, als im Sommer 1920 Erzberger seine Rehabilitierung und sein politisches Comeback betrieb.
Ein Jahr später, am 26. August 1921, ermordeten die Marineoffiziere Heinrich Schulz und Heinrich Tillessen, die der »Organisation Consul« angehörten, Erzberger auf einem Spaziergang im Schwarzwald mit zwölf Revolverschüssen. Die deutschnationale »Pommersche Tagespost« begrüßte das Attentat mit einem »Gefühl der Befreiung: Du wirst dem Land nicht mehr schaden.« Die republikanische Bevölkerung, einschließlich der Arbeiterschaft, reagierte indes mit Entrüstung und forderte in großen Demonstrationen die Bekämpfung des Rechtsextremismus.
Christlicher Solidarismus
Erzberger war nicht das »politische Chamäleon«, als das ihn einige Publizisten hinstellen. Der aus ärmlichen Verhältnissen in der Schwäbischen Alb stammende, vormalige katholische Volksschullehrer verkörperte einen neuen Typ des Berufspolitikers, der ohne Namen und Vermögen nur dank seiner Fähigkeiten Karriere gemacht hatte. Erzbergers Biograf Klaus Epstein nennt ihn »Vorkämpfer für die freiheitlich-demokratische Ordnung«, und der sozialdemokratische Finanzminister Axel Müller rühmte 50 Jahre nach Erzbergers Tod dessen Finanz- und Steuerreform als »Durchbruch zur modernen Steuerwirtschaft«, die sich vom »Prinzip der sozialen Gerechtigkeit« leiten ließ.
Nicht unerwähnt soll bleiben, dass Erzbergers Vorstellungen von einem »christlichen Solidarismus« einem zeitgemäßen Gesellschaftsmodell entsprachen, das – angesiedelt zwischen Kapitalismus und Sozialismus – Ideen des »Volkskapitalismus« nahe kam. In »Werksgenossenschaften« sollten die Arbeiter korporativ über 50 Prozent der Aktien verfügen und dadurch ein Ausgleich zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern erzielt werden. Alles in allem also ein moderner Politiker, dessen Steuer- und Finanzreformen den Weg in eine sozial geprägte Demokratie wiesen und der deshalb von den Feinden der Demokratie hasserfüllt verfolgt und ermordet wurde.
Unser Autor ist emeritierter Professor für Geschichte der Martin-Luther-Universität Halle.
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