Bolivien im tief greifenden Wandel
Zweibändige Publikation aus Leipzig beleuchtet den schwierigen Weg der Neugründung
Seit Evo Morales Ende 2005 zum Präsidenten Boliviens gewählt wurde, interessieren sich Linke weltweit für das südamerikanische Land. Dazu hat Quetzal, das Leipziger online-Magazin zu Lateinamerika (www.quetzal-leipzig.de) in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen die zweibändige Publikation »Bolivien im Umbruch – Der schwierige Weg der Neugründung« vorgelegt. In 18 Aufsätzen analysieren AutorInnen aus Bolivien, Deutschland und den USA die Wirtschafts-, Agrar-, Drogen- und Außenpolitik der Regierung Morales, die neue Verfassung und die Rolle der Medien. Ausführlich werden das Verhältnis der indigenen Bevölkerungsmehrheit zum Staat und die Autonomiebestrebungen der wirtschaftsstarken Provinzen des Tieflandes diskutiert.
Zunächst stellt Peter Gärtner den Status der Urbevölkerung in Boliviens Geschichte dar. Die spanische Eroberung machte sie zu tributpflichtigen Untertanen. Als Bolivien 1825 unter der Führung der spanischstämmigen Elite unabhängig wurde, verschlechterte sich ihre Lage eher noch, weil weiße Grundbesitzer große Teile ihres Landes raubten. Erst die demokratische Revolution von 1952 erkannte die Bürgerrechte der Indígenen an. Doch die politische und wirtschaftliche Macht blieb in den Händen von Weißen und Mestizen. Die neoliberale Politik seit Mitte der 80er Jahre verschärfte die soziale Ungleichheit weiter, mobilisierte aber auch den Widerstand indigener Organisationen. Aus diesen Kämpfen entwickelte sich die heutige Regierungspartei MAS (Bewegung zum Sozialismus), die, anders als der Name impliziert, keine Wurzeln in der traditionellen Linken hat. Ihr Wahlsieg stärkte das indigene Selbstbewusstsein, schürte aber auch Misstrauen, denn die Regierung agiert in einem Staat, den viele Indigene nicht als den ihren betrachten.
Die Sicht dessen, was indigen ist und welche Rolle dieses Erbe heute spielen soll, wird in den Bänden sehr unterschiedlich gesehen. Für Muruchi Poma und Simón Yampara Huarachi ist die Rückbesinnung auf die vorkoloniale Tradition des Wirtschaftens unverzichtbar. Sie werfen der Regierung Morales vor, sich der Logik des westlich geprägten Staates und des Kapitalismus zu unterwerfen. Demgegenüber betont Sebastian Matthes, ethnische Identitäten seien immer sozial konstruiert, um den jeweiligen Eliten Macht und Einfluss zu sichern.
Warum die Machtgruppen des Tieflandes heute Autonomie fordern, analysieren Luis Sandoval und Mark Weisbrot sowie Florian Quitzsch. Während der Landbesitz im Andenhochland durch die Agrarreform von 1952 begrenzt wurde, ist er im Tiefland weiter extrem konzentriert. Die dortigen Großgrundbesitzer waren in den nationalen Institutionen immer stark vertreten und erreichten, dass massiv öffentliche Investitionen ins Tiefland flossen. Erst das wachsende indigene Selbstbewusstsein und die sich ab 2000 abzeichnenden politischen Veränderungen ließen sie auf die autonomistische Karte setzen – vor allem zur Abwehr einer Agrarreform. So verlangt das vom Bürgerkomitee von Santa Cruz vorgelegte Autonomiestatut, Veränderungen in der Landbesitzstruktur seien allein Sache der Regionalregierung. Als die Tieflandprovinzen 2008 mit Abspaltung drohten, kam die Regierung den Junkern weit entgegen. Die im neuen Agrarreformgesetz festgelegte Besitzobergrenze von 5000 Hektar soll nicht rückwirkend gelten, existierendes Landeigentum bleibt davon unberührt. Für Sven Schaller hat die Regierung Morales damit das neoliberale Agrarexportmodell dauerhaft festgeschrieben.
»Bolivien im Umbruch« ist ohne Zweifel die derzeit fundierteste deutschsprachige Veröffentlichung zum Wandlungsprozess in Bolivien. Sie kann allen daran Interessierten nachdrücklich empfohlen werden.
Bolivien im Umbruch – Der schwierige Weg der Neugründung. Hrsg. von Peter Gärtner, Monika Grabow, Muruchi Poma, Sven Schaller und Gabriele Topferwein. Quetzal-Leipzig e.V. und Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e.V., Leipzig 2010, 2 Halbbände, 720 S., 29 Euro.
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