Die Bürger als Selbstversorger

Eine Genossenschaft macht im sächsischen Falkenau Aldi, Penny & Co. überflüssig

  • Hendrik Lasch, Falkenau
  • Lesedauer: 6 Min.
Obwohl es in Sachsen mehr als genug Discounter gibt, ist es um die Nahversorgung in vielen Dörfern schlecht bestellt. In Falkenau machten die Bürger aus der Not eine Tugend: Sie gründeten eine Genossenschaft – und versorgen sich jetzt selbst.
Die Bürger als Selbstversorger

Vier Kilometer sind eigentlich keine lange Strecke: Fünf Minuten mit dem Auto, und man ist am Ziel. Für denjenigen, der kein Auto hat, können sich vier Kilometer allerdings sehr in die Länge ziehen. Und selbst Pkw-Besitzer verlieren, wenn sie den Katzensprung mehrfach pro Woche zurücklegen müssen, die gute Laune, die von der Tankrechnung zusätzlich getrübt wird.

Vier Kilometer mussten die Bürger von Falkenau bis zum August 2009 zurücklegen, wenn sie einkaufen wollten. Drei Jahre zuvor hatte der letzte Tante-Emma-Laden in dem kleinen Ort im Tal der Flöha geschlossen – ein Geschäft, in dem auf bescheidenen 40 Quadratmetern Milch, Gemüse, Nudeln und Konserven feilgeboten wurden. Danach gab es in der Gemeinde, die 1966 Einwohner hat, nur noch Fleischer, Getränkehändler und einen Bäcker. Dieser erweiterte zwar sein Angebot ein wenig. Mehr als eine Verlegenheitslösung war das allerdings nicht.

Eigeninitiative statt Unmutsbekundungen

Im Rathaus mühte man sich um Abhilfe. Doch alle Bitten von Bürgermeister Martin Müller, der bei Lidl, Penny & Co. wegen der Eröffnung eines Supermarktes anfragte, schlugen fehl. Es hagelte Absagen. Falkenau sei zu klein, hieß es zur Begründung, die Kaufkraft sei zu gering. Zwar gibt es in Sachsen überdurchschnittlich viele Filialen großer Discounter; die Dichte lag laut einer vor Jahren publizierten Studie des Wirtschaftsministeriums zehn Prozent über dem Bundesdurchschnitt. Doch die Märkte finden sich meist nur in größeren Orten; Dörfer oder die Ortsteile der durch Fusionen oft weitläufigen Gemeinden gehen leer aus.

Es gibt gute Gründe, über die Entwicklung zu klagen. In Falkenau beschränkte man sich indes nicht auf Unmutsbekundungen. Im Oktober 2007 gründete sich eine Initiative mit dem Ziel, in der Gemeinde wieder ein Geschäft zu eröffnen. Der Grundgedanke: Wenn die großen Ketten den Falkenauern die kalte Schulter zeigen, wollten diese auf deren Angebot künftig verzichten. »Wir würden eben unseren eigenen Laden eröffnen«, sagt Thilo Günther, einer der Initiatoren. Bei den Einwohnern wurde die Werbetrommel gerührt, zugleich suchte man einen geeigneten Raum. Das seit Jahren geschlossene Kino, das 1906 als Turnhalle erbaut worden war, schien geeignet. Für den Ausbau des maroden Gebäudes wurden Fördermittel beantragt. Im Januar 2009 begann der Umbau, Ende Juli wurde unter großem Andrang das Geschäft eröffnet, das einen schlichten, aber programmatischen Namen trägt: »Unser Laden«.

Ein Angebot von 5000 verschiedenen Artikeln

Das besitzanzeigende Fürwort »unser« ist in diesem Fall mehr als angebracht, denn um den Laden ins Leben rufen zu können, gründeten die Falkenauer eine Genossenschaft. Zunächst 189 Mitglieder beteiligten sich daran mit jeweils 50 Euro. Das Startkapital reichte aus, um die gebrauchten Regale und Kühltheken erwerben zu können, mit denen der 170 Quadratmeter große Raum bestückt wurde. Dort werden inzwischen sage und schreibe 5000 Artikel angeboten – von den Kartoffeln einer Agrargenossenschaft über Milch und Joghurt, Obst und Gemüse, Süßwaren und Gebäck bis zu schottischem Whisky. Neben dem Sortiment, das von einem Großhändler bezogen wird, finden sich viele regionale und frische Produkte. Ein Teil davon ist quasi Wunschprogramm, sagt Günther, der Vorstandschef der Genossenschaft ist: »Wenn unser Kunden einen bestimmten Artikel vermissen, versuchen wir, ihn aufzunehmen.«

Bei großen Discounterketten wäre derlei Kundennähe kaum denkbar; bei der Genossenschaft in Falkenau gehört sie zum Programm: »Die Leute hier identifizieren sich mit dem Laden und verstehen ihn tatsächlich als ihren eigenen«, sagt Günther, der deshalb auch schon beobachten konnte, wie ältere Kundinnen die Verkäuferinnen auf vermeintlich nicht perfekt einsortiertes Gemüse aufmerksam machten. Sie belassen es indes nicht bei kritischer Einmischung: Immer mehr Falkenauer beteiligen sich finanziell an der Genossenschaft. Die Zahl der Mitglieder ist auf über 300 gestiegen; viele haben mehr als einen Anteil gezeichnet – und das, obwohl die aus dem DDR-Konsum bekannte Erstattung eines Teils der Umsätze noch Zukunftsmusik ist.

Mindestens ebenso wichtig ist aus Günthers Sicht, dass die Falkenauer ihren Laden nicht nur loben, sondern auch dort einkaufen. Rund 120 000 Kunden besuchten das Geschäft in bisher zwei Jahren, wie die fortlaufende Zählung auf den Kassenbons belegt. Dazu gehören nicht nur viele ältere Falkenauer, denen dank des Ladens eine Zugfahrt mit vollen Einkaufsbeuteln aus Flöha erspart bleibt. Auch viele Pendler, die auf dem Rückweg aus Chemnitz bei preiswerteren Discountern ihren Kofferraum füllen könnten, ziehen dem offenbar einen ruhigen Einkauf in Familie vor. Gut zehn Prozent der Kunden, hat Günther festgestellt, kommen nicht einmal aus Falkenau: »Die wollen mal etwas anderes kaufen als das, was sie in ihrem Supermarkt finden.«

Für den Falkenauer Laden, der nach einem Geschäft in Bad Schlema der zweite Bürgerkonsum im Freistaat ist und nach Günthers Worten aus einigen dort gemachten Fehlern lernen konnte, schlägt sich das in einer kaum erhofften Erfolgsbilanz nieder: Bei einem Umsatz von gut einer halben Million Euro stand schon im ersten Jahr eine schwarze Zahl unter der Bilanz; 2010 war der Gewinn noch höher. »Und unsere Kredite«, betont Günther, »haben wir schon abgezahlt.«

Angesichts dessen verwundert es kaum, dass aus anderen Gemeinden interessierte Anfragen kommen – so aus einem Ortsteil von Flöha, der von der Versorgung abgeschnitten ist. Günther beantwortet sie bereitwillig, betont aber, dass es einige Voraussetzungen für einen Erfolg der Bürger-Selbstversorgung brauche. Der Gemeinderat müsse mitziehen, ehrenamtliche Arbeit sei unabdingbar, sagt Günther, der selbst von der Genossenschaft nicht bezahlt wird. Zudem versuche man, ein gutnachbarschaftliches Verhältnis mit anderen Händlern im Ort zu pflegen: Das Angebot an Kuchen und Haushaltwaren etwa beschränke man auf das Nötigste. Dafür hat der Bäcker sein Tante-Emma-Sortiment reduziert.

Politik mit Interesse, aber ohne Förderung

Auch in der Politik stößt das Modell auf Interesse; Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) erklärte bei einem Besuch in Falkenau sogar, man hoffe auf Nachfolger. Die Initiative dafür überlässt das zuständige Wirtschaftsministerium indes allein den Bürgern; eine tatkräftige Unterstützung und Förderung vermissen Befürworter des Modells dagegen. Dabei könnte das durchaus Schule machen, findet beispielsweise der Mitteldeutsche Genossenschaftsverband, der die Falkenauer Initiative stark unterstützte. Für eine wirkliche Belebung kleiner ländlicher Kommunen reiche freilich ein Lebensmittelgeschäft nicht aus, fügt man beim Verband hinzu: Nötig seien auch medizinische Versorgung oder kulturelle Teffpunkte.

Auch in Falkenau soll der Lebensmittelmarkt nur ein Anfang sein. Das benachbarte Volkshaus wird derzeit zu einem Bürgerzentrum umgebaut, in dem auch ein Seniorenklub unterkommen soll. Eine Bibliothek gibt es noch in der 2009 geschlossenen Schule – allerdings ist sie nur alle 14 Tage geöffnet. Ändern könnte sich das, falls, wie erhofft, die Schule wiederbelebt wird. Das hat man sich in Falkenau für die bevorstehende Fusion mit dem benachbarten Flöha jedenfalls ausdrücklich ausbedungen.


Tante Emma auf dem Rückzug

In Sachsen gibt es trotz unterdurchschnittlicher Kaufkraft sehr viele Filialen von Discountern: Rund 1650 zählte eine Studie des Wirtschaftsministeriums im Juli 2007. Die Zahl der kleinen Ladengeschäfte wurde jedoch nur auf 962 beziffert – das sei „weit unterdurchschnittlich", so das Papier. Vor allem kleine Dörfer und Ortsteile größerer Gemeinden verfügen oft nicht über Lebensmittelläden in zumutbarer Entfernung. Folglich wurden für 14 Prozent der Gemeinden „ausgeprägte Versorgungsdefizite" konstatiert; in 74 Gemeinden gab es keinen Tante-Emma-Laden mehr, der zu Fuß erreicht werden konnte. Für die Zukunft prognostizierte das Papier eine weitere Verschlechterung, unter anderem wegen der sinkenden Einwohnerzahl. Ob das si eingetreten ist, lässt sich nicht sagen: Neuere Untersuchungen zum Thema sind nicht bekannt.

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