Israels Sozialproteste am Scheideweg
Terrorangst und Ferienende ließen Zeltstädte schrumpfen / Heute neue Großdemonstrationen
Auf dem Rothschild-Boulevard ist es ruhig geworden: Die meisten der Zelte, die zwei Monate lang den breiten Grünstreifen in der Mitte der Prachtstraße im Bankenviertel von Tel Aviv verstellten, sind verschwunden. Ihre einstigen Bewohner, die meisten Studenten, sind in ihre viel zu teuren WG-Zimmer zurückgezogen – jetzt, wo in Israel die Vorlesungen beginnen, schon der erste Regen gefallen ist und zudem nach zwei Anschlägen und einer Eskalation im Gaza-Streifen die Angst vor Krieg und Terror umgeht.
Ein ähnliches Bild zeigt sich in Jerusalem, in Haifa, in Be'er Sheva, überall dort, wo noch vor wenigen Wochen der Unmut der Bevölkerung in Zelten gemessen wurde.
»Ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse«, sagt Dafni Leef. »Die Protestbewegung ist lebendiger als je zuvor.« Die junge Filmemacherin hatte mit ihren Freunden die ersten Zelte auf dem Rothschild-Boulevard aufgebaut und über Facebook dazu aufgerufen mitzumachen. »Es war von Anfang an klar, dass die Leute irgendwann wieder zurück an die Uni oder zur Arbeit müssen. Aber die Wut ist geblieben«, sagt sie und fügt kämpferisch hinzu: »Am Samstagabend werden wieder alle sehen, wie groß die Bewegung ist.« Denn überall in Israel sollen heute Massendemonstrationen abgehalten werden.
Die aufrufende Gruppe aus Organisationen hofft auf die größten Proteste in der Geschichte des Staates. Dafni Leef, die so etwas wie das Gesicht der Bewegung geworden ist, spricht gar von einem »Millionen-Menschen-Marsch« – und bekommt Schützenhilfe von den Medien, die die Teilnahme zur »Bürgerpflicht« (die Zeitung »Jedioth Ahronoth«) erklärt haben. »Haaretz« schrieb jetzt sogar, jeder, der zu Hause bleibt, zeige damit, dass er zufrieden sei, in einem Land zu leben, in dem das Leben teurer als in London oder New York ist, während sich die Politik fast gar nicht dafür interessiere.
Doch wie viele Menschen tatsächlich kommen werden, ist völlig offen. »Wenn die Marke der 300 000 erreicht würde, die im Juli zur ersten großen Demonstration gekommen sind, wäre das ein großer Erfolg. Doch das dürfte schwer werden«, meint Ari Shavit von der Zeitung »Haaretz«. Und er nennt das aus seiner Sicht größte Problem: »Niemand, keine Organisation und keine Partei, hat es bisher geschafft, der Protestbewegung klare Aussagen, deutliche Positionen und verhandelbare Forderungen zu verpassen.« Stattdessen sei die Regierung nun mit einer stündlich länger werdenden Liste von Forderungen konfrontiert. »Gesellt sich eine weitere gesellschaftliche Gruppierung zu den Protesten hinzu, dann werden deren Forderungen einfach an die anderen angehängt.«
Ein Problem, das der Meinungsforscher Professor Asher Arian auf die Unerfahrenheit der Demonstranten zurückführt. »Man muss sich vor Augen halten, dass viele dieser Menschen nie in ihrem Leben wählen waren, geschweige denn auf die Straße gegangen sind. Diese Protestbewegung macht gerade einen Lernprozess durch. Die Leute lernen, dass politische Teilnahme nicht allein darin besteht, zu demonstrieren und dann die Politik den Rest erledigen zu lassen. Vermutlich wird am Ende der größte Erfolg der Proteste sein, dass sich die Einstellung der Menschen zur Politik geändert hat.«
Die Weg ist allerdings zur Zeit noch eine Einbahnstraße. Israels Politik stellt sich nach wie vor stur und verweigert jede Annäherung an die Bedürfnisse der Bevölkerung. Unverhohlen bezeichnete Premierminister Benjamin Netanjahu am Donnerstag die geplanten Massendemonstrationen als »politisch irrelevant« und »Jammerei auf hohem Niveau«, während sein Verteidigungsminister Ehud Barak in einem Interview mit dem Sender »Kanal Zwei« erklärte, es wäre unverantwortlich, am Verteidigungshaushalt zu sparen, um Forderungen der Demonstranten zu erfüllen.
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