Erschrecken

Schwerin, Neonazis und die Etablierten

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Ein Teil des Nordens hat gewählt, und: Mecklenburg-Vorpommerns Landtag ist erneut nicht nazifrei. Also weiterhin Erschrecken. Denn zu bedenken ist: Solche Leute nähern sich nicht ungerufen und auf eigene Faust den parlamentarischen Stätten, sie werden vom Souverän per Wahlkreuz auf Kurs gebracht.

Immer ist just in Krisenzeiten von Rechtsruck die Rede und besagte Erschütterung groß. Diese Erschütterung über einen Kasus, der die Demokratie freilich nicht unterläuft, sondern eine ihrer dämlichsten Möglichkeiten offenbart – worauf bezieht sie sich? Auf die Dumpfheit der Rechtsextremen? Das wäre keiner größeren Sorge wert; ein arger Stumpfgeist ist schon ein gutes Quantum gebändigt, wenn er parlamentarisch kontrolliert wird.

Erschüttert uns also eher die Verblendung der Wähler? Das wäre gefahrvolle Beleidigung derer, auf die doch jede Partei angewiesen ist. Zumal diese Zahl der Wählenden, wie in Schwerin zu konstatieren, bedenklich kleiner wird. Oder bezieht sich die Erschütterung über Rechtsrucke auf jene von links bis konservativ reichende, also gemeinsame Unfähigkeit, die momentan weit rechts Wählenden oder gar Wahlabstinenten für bessere Alternativen zu gewinnen? Und zwar vor der Wahl!

Letzteres Erschrecken über sich selbst scheint bei den politisch Etablierten und denen, die dazu gehören möchten, gewöhnlich kaum bemerkbar zu sein. Offenheit als lohnende demokratische Tugend ist eben nie hochkonjunkturell. Hoch im Kurs – auch am sonntäglichen Wahlabend zu beobachten – ist der Schein von Stärke, Sicherheit, Wissen, Kursklarheit, also: Heuchelei. Zustände wie Schwäche, Elend, Hilflosigkeit sind so negativ ausgezeichnet, dass wir einander nicht mehr über unseren wahren Zustand informieren können. Der eben darin besteht, dass die marktwirtschaftlich vom Gierfraß gelenkte Globalisierung alle politisch Hauptberufstätigen (alle!) elend, schwach und hilflos macht. Die einen, die auf Stimmenfang sind, nennen dann die anderen, die am rechtesten Rand auf Stimmenfang sind: »Rattenfänger« (Hermann Gröhe, CDU-Generalsekretär). Aber Ratten haben keinen Zutritt zu Wahllokalen. Hier muss ein Missverständnis vorliegen, das nicht die Neonazis betrifft.

Es ist offenbar ein Unterschied zu vermuten zwischen dem, was Rechtsextreme propagieren, und jenen Gründen, die zu ihren Wahlerfolgen führen. Rechtsextremes Denken selbst ist Ausdruck einer kollektiven Asozialität, die sich an einer Gesellschaft individueller, demokratisch gesicherter (und daher risikoreich bleibender!) Freiheit reibt. Wohl immer reiben wird. Man kann die Mitte nicht feiern wollen, ohne die Ränder aushalten zu können. Dieser Symmetrie-Gedanke ist nicht Frevel, sondern Logik. Denken lässt sich also leider nicht so einfach entnazifizieren. Alles Reaktionäre bleibt (ebenso wie alles Revolutionäre) ein Beiprogramm der Demokratie-Geschichte. Eine wirklich freie Gesellschaft hat demzufolge immer auch damit zu tun, dass sie nicht bloß eine links und bürgerlich aufgeklärte Gesellschaft ist, sondern nach allen Seiten bewegt und bewegbar bleibt.

Aber niemand wird deshalb voreilig den Schluss ziehen, NPD-Wähler seien automatisch auch Rechtsextreme. Es war schon immer gefährlich, von den Handlungen eines Menschen unmittelbar auf dessen Motive zu schließen. Auch das Gute entsteht am allerwenigsten aus Vorsatz. Vielleicht wollen einige rechtsextrem Wählende dies Gute herbeialarmieren, indem sie der politischen Verwahrlosung einen warnenden Entfaltungsraum organisieren? Vielleicht haben zu viele Menschen mit den Etablierten weit mehr unzumutbare als willkommene Erfahrungen machen müssen. Sozial vor allem. Um überhaupt noch wahrgenommen zu werden, hilft da offenbar nur noch eine fremde Kraft, die dieser kopflosen Demokratie wenigstens als Schreck in die Knochen fährt. Die Radikalen als Auftragsrufmörder: ans Wahlkreuz mit den selbstgefälligen Parteiallianzen!

Bevölkerung spielt immer sicherer die »Big Brother«-Klaviatur. Sie wählt dabei nicht nur ab, sondern schiebt auch neue Kandidaten vors Tor der Parlamente. Da Begriffe wie Mobilität, Flexibilität längst jeden einigermaßen jüngeren Kopf besetzen, wird – wenn überhaupt noch! – auch flexibel, also nach jeweils sehr tagesbezogenen Stimmungen gewählt. Die Volksparteien-Demokratie ist kein abgesichertes Gelände mehr; deshalb sind kurzzeitige Zweckbündnisse das Gebot, mittelfristige Programm-Symbiosen schon utopisch.

Die repräsentative Demokratie hat sich im Übrigen als Form politischer Meinungsbildung abgesetzt – und zwar aus der Wirklichkeit hin zum TV-Feldgeschrei. Der Bürger gestaltet sein Leben daher längst sehr individuell und sehr abseits der politischen Hauptberufler, und zwar ohne gesteigerte Neugier darauf, wie Parteien nun den eigenen Überlebenskampf mühsam mit Inhalt kaschieren. Amüsieren, langweilen, abstumpfen. Das ist die Reihenfolge moderner Volks-Bildung. Da sind wir aber nicht etwa bei der NDP, sondern immer noch mitten in der Aushöhlung des Wahlrechts durch – Etablierte selbst. Wahlrecht, verstanden als Anstrengung des Wahlvolks beim Gewinnenwollen von Einsichten ins allgemeine politische Tun – wer hat diese Lust auf Anstrengung noch? Wo kann sie geübt werden?

Wie geht man mit Rechtsextremen um? Diese Frage ist gut! Sie lenkt so herrlich ab. Von jener Hauptfrage nämlich, die alle demokratischen Parteien weit mehr quälen müsste: Wie gehen wir so mit uns selber um, dass daraus nicht nur Selbstbeschäftigung wird und folglich immer mehr Menschen einen größer werdenden Bogen um uns machen?

Wer Rechtsextremen Stimmen gibt, ist nicht automatisch so gestimmt. Beeinflussbar aber ist er allemal. Möge zum Beispiel niemand so tun, als sei Fremdenhass nur ein Ding, das aus Schüben faschistischer Erinnerungskultur entstünde. Nein, Nationalismus und soziale Aussichtslosigkeit können in einem sehr heutigen Zusammenhang stehen, und beides taugt zu jeder politischen Selbstverblendung. Die Linken, welche sich der sozialen Gerechtigkeit für Benachteiligte vorderhand zugetan fühlen, und die Konservativen, die den kalten patriotischen Leistungsgedanken dagegensetzen – beide müssten aufhören, dem jeweils anderen vorzuwerfen, er treibe Wähler in die extremen Lager. Auch Integration lebt von Arbeitsteilung. Es wäre allerdings eine undenkbar idealistische Vorstellung: Linke sind endlich (trotz Europa) unverkrampft national deutsch und marktfreundlich, die Konservativen dagegen entdecken ihrer Freiheitsdoktrin ein stärker schlagendes soziales Herz.

Ja, das ginge zu weit. Zu weit ist freilich nicht zu spät. Für die Erkenntnis: Das rettende Gegenteil von Neonazismus ist nicht Antifaschismus, sondern bleibt: eine funktionierende Demokratie.

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