Im Zustand hysterischer Normalität
Osama bin Laden wollte die USA »bis zum Bankrott bluten« lassen – war er erfolgreich?
Osama bin Ladens Ziel war nie die militärische Vernichtung der USA. Er wusste, dass dies unmöglich wäre. Er hatte aus dem Kampf gegen die sowjetische Invasion Afghanistans gelernt und wollte die USA ökonomisch niederringen. Amerika sollte, so seine eigenen Worte, »bluten bis zum Bankrott«. Genau dabei geht es beim asymmetrischen Krieg. Man schlägt den Feind nicht auf dem Schlachtfeld, sondern trocknet ihn aus, demoralisiert ihn, indem man seine Lebensgrundlagen zerstört.
Lassen wir die Frage nach den Motiven bin Ladens mal einen Augenblick beiseite und erörtern wir nicht, ob sie religiös, geopolitisch, soziopathisch oder eine Mischung aus allem waren, und betrachten heute, am zehnten Jahrestag der Angriffe des 11. Septembers etwas Grundlegenderes, nämlich: War er erfolgreich? Konnten die Anschläge des 11. Septembers die USA in den Konkurs treiben?
Beginnen wir mit den offiziellen Statistiken: Unmittelbar nach 9/11 brachen die globalen Aktienmärkte ein. Nach dem Platzen der dot.com-Blase durchlebte die amerikanische Wirtschaft bereits eine Rezession. Die Anschläge verstärkten ihre Talfahrt, verlängerten sie vielleicht auch. Doch der Aufschwung des BIP setzte Mitte des Jahres 2003 wieder ein. Offiziell waren die unmittelbaren Folgen der Anschläge für die Wirtschaft also gravierend, jedoch nicht gigantisch.
Ergänzen müssen wir hier jedoch die Kosten der Kriege in Afghanistan und Irak, die als Reaktion auf 9/11 gerechtfertigt wurden. Auf Grund der Rezession und der Steuerkürzungen der Bush-Regierung waren die USA verschuldet und mussten die Kriege mit Krediten finanzieren. Noch zehn Jahre später bezahlt das Land Milliarden Dollar monatlich, um ihre Streitkräfte und die staatlichen Vertragspartner zu unterhalten. Über die Frage, wie hoch die in diese Schätzung einfließenden Zusatzkosten sind, besteht Uneinigkeit. Niemand bestreitet jedoch, dass hier nicht mehr von Milliarden, sondern von Billionen die Rede sein muss. Diese Beträge sind zu den Staatsschulden hinzu zu addieren.
Dabei sagen die meisten Wirtschaftswissenschaftler, dass diese enormen Summen allein nicht der Grund sind, warum eine so große und diversifizierte Wirtschaft wie die der USA erodiert. Denn anders als die Ausgaben für das Gesundheitswesen, die Alten und Armen in der Gesellschaft, handelt es sich nicht um dauerhafte Ausgaben. Und tatsächlich folgte in den vier Jahren nach dem Einmarsch in Irak, 2003 bis 2007, eine Phase nachhaltigen Wirtschaftswachstums. Allerdings wissen wir heute, dass dieses »Wachstum« eine Illusion war. Es basierte auf der Spekulation und Kriminalität einer dramatisch deregulierten Finanzbranche, die keine Güter sondern nur Gewinne für ihre Aktionäre und Beschäftigten generierte.
Der Rest ist bekannt. Wir treten heute in das vierte Jahr einer globalen Finanzkrise ein, die die politische Ordnung Europas und der Vereinigten Staaten von Amerika umgestaltet hat, und sie, erstaunlicherweise, immer weiter nach rechts führt, obwohl sich die wirtschaftliche Lage der meisten Menschen verschlechtert hat und die Regierung weiter Leistungen im Gesundheits-, Bildungs- und Sozialwesen kürzt.
Die Anschläge des 11. September haben die Finanzkrise nicht direkt verursacht. Ihre Saat wurde bereits in den 1990er Jahren gesät, als die Wall Street die Institutionen, die sie regulieren sollten, übernahm und die Regierung daran hinderte, die spekulativsten, profitabelsten und gefährlichsten Unternehmen zu kontrollieren. Man ist daher versucht, die Frage, die ich anfangs stellte, negativ zu beantworten. Zwar bewirkte bin Ladens Netzwerk zwei Kriege und kostete hunderttausende Leben und Billionen Dollar. Doch die eigentlichen Ursachen scheinen sich in unserem eigenen Bankensektor zu finden.
Diese Schlussfolgerung wäre jedoch zu simpel. Sie übersieht, was sich in den amtlichen Statistiken nicht findet, nämlich die psychischen und kulturellen Veränderungen, die 9/11 im Leben der Amerikaner mit sich brachte, und welchen Beitrag diese zu der Wirtschaftskatastrophe geleistet haben, die wir aktuell erleben. Darüber ließe sich viel sagen, doch ich fasse mich kurz: Das Bild der einstürzenden Zwillingstürme schockte die amerikanische Öffentlichkeit und traf sie ins Herz. Die Folge war mehr als Trauer. Es war das Trauma der kollektiven Vorstellung von Amerika als Supermacht, als Land, das die Welt wegen seiner demokratischen Ideale und Freiheit liebt.
Ein Symptom, das Psychiater bei Traumapatienten diagnostizieren, nennt sich Hyperwachsamkeit. In diesem Zustand ständiger Wachsamkeit prüfen sie permanent ihre Umwelt, ob sie neu bedroht sind. Nicht selten bilden sie sich die Bedrohung auch ein. Ein solcher Zustand fördert Angst, Depression und Wut, und kann unbehandelt bis zum Selbstmord führen.
In den vergangenen zehn Jahren litten die USA unter einer sozialen Version des posttraumatischen Stresssyndroms. Wir leben in einem Zustand hysterischer Normalität. Oberflächlich betrachtet scheint alles zu sein, wie es vor 9/11 war. Keine Straßenkämpfe, kein Artilleriebeschuss, keine Kriegsrationierung, keine Betriebsausfälle. Weitere große Angriffe auf amerikanischen Boden hat es nicht gegeben. Und doch warnen uns die Medien, die Polizei oder die Regierung fast täglich vor der ständig drohenden Gefahr. Wie die Schilder in der New Yorker U-Bahn, die die Fahrgäste auffordern: Wenn du etwas siehst, sag es! Wir sind zur Hyperwachsamkeit gegenüber unseren Mitbürgern verpflichtet.
Naomi Klein argumentiert nachdrücklich in ihrem Buch Die Schockdoktrin, dass es für Regierungen und Konzerne wesentlich leichter ist, eine traumatisierte Bevölkerung zu manipulieren, als Menschen, die gelassen sind. Terror macht Erwachsene zu Kindern. Plötzlich hat man das Bedürfnis nach dramatischen Zeichen der Autorität. Saddam Hussein hatte mit 9/11 nichts zu tun. Doch durch die Manipulation der plötzlichen Angst der Amerikaner konnte die Bush-Administration auf der Grundlage von Indizien, krassen Lügen und Übertreibung einen Krieg beginnen.
Politiker lügen natürlich immer. Das ist trivial. Doch es ist anders, wenn ihre Lügen zum Tod von Tausenden führen. Die Politik verkommt schneller und stärker. Und wenn die politische Klasse und die Medien eines Landes die Lügen weitgehend hinnehmen, stellt das die Beziehung zwischen Sprache und Realität in Frage. Die Dinge ergeben keinen Sinn mehr. Alte Regeln gelten nicht mehr, und es entwickelt sich eine Kultur der Straflosigkeit. Die Menschen merken, dass sie, so lange sie die Patina von Legalität und Autorität besitzen, ungestraft lügen und betrügen können.
Die Verantwortlichen sagen: »Das passiert nun mal«, wie Verteidigungsminister Donald Rumsfeld sagte, als er gefragt wurde, warum amerikanische Soldaten das irakische Nationalmuseum nicht geschützt hätten. Kontraktoren der Regierung kassieren Milliarden Dollar aus öffentlichen Kassen für Projekte, die nie realisiert werden. Wertlose Geldanlagen werden Investoren angedreht, und man steckt sich den Profit aus dem Geschäft in die Tasche. Banken gewähren Menschen Immobilienkredite, wissend, dass ihre Schuldner sie nicht zurückzahlen können, denn sie entledigen sich des Problems, indem sie sie weiterverkaufen. Ehrlichkeit, Fairness, Verhältnismäßigkeit – diese Dinge zählen nicht mehr.
Osama bin Laden hat die Finanzkrise nicht ausgelöst, doch sein Terror ließ die Amerikaner manipulierbarer werden. Diese Manipulation kostet uns Billionen Dollar Kriegsschulden. Und sie trug indirekt auch zu dem wesentlich größeren ökonomischen Schaden der globalen Wirtschaftskrise bei.
Ich wünschte, ich könnte zehn Jahre nach 9/11, im Jahr, in dem Osama bin Laden starb, sagen, dass seine Strategie, die »Vereinigten Staaten bis zum Bankrott bluten zu lassen« nicht aufgegangen sei. Doch das kann ich nicht. Zu viele von uns haben ihm geholfen. Die Kultur der Straflosigkeit hat zu unbeherrschbaren Hinterlassenschaften geführt. Und wir alle tragen die Konsequenzen.
Übersetzung a. d. Englischen: Lilian-Astrid Geese
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