»Es ist ganz still«
Alexander Osang und seine Frau Anja Reich schreiben über den 11. September 2001 in New York
Jeder hat seine Erinnerung an den 11. September 2011, weiß vermutlich ganz genau, was er gemacht hat, als die Nachrichten und Bilder vom Terroranschlag auf das World Trade Center auf uns einstürzten. Vermutlich war es etwas Banales, was wir in diesem Moment taten, aber es wurde mitgespeichert.
Ich war im Auto unterwegs zu meiner Steuerberaterin, nachmittags um vier Uhr, als ich es im Radio hörte, wie die Nachricht vom Unglück zurückgezogen und gegen das Wort Terror ausgetauscht werden musste. Es kam aus dem Autoradio, unterwegs auf der A 14, bei der in diesem Moment gespenstischen Vorbeifahrt am Flughafen Leipzig-Halle, als die beiden Türme des World Trade Center zusammenrutschen, als seien sie alte Männer. Zwischen mir und New York liegt ein unendlicher Ozean. Für Alexander Osang und Anja Reich war es nur der East-River und später für Osang, den New-York-Korrespondenten des SPIEGEL, nicht einmal der.
Das Buch, das sie jetzt unter dem Titel »Wo warst Du? Ein Septembertag in New York« veröffentlicht haben, ist kein Sachbuch und kein Roman. Eine Form gibt es, die von beidem etwas aufnehmen kann: das Tagebuch. Es ist ein fingiertes, weil nicht am Abend dieses Tags aufgezeichnet, auch nicht in der Woche danach. Alexander Osang und Anja Reich nutzen die Form des Tagebuchs für ihre Erinnerung an den 11. September 2001.
Beide erzählen im Wechsel ihre Geschichte eines Höllentags: Wann rief das New Yorker Spiegel-Büro bei Osang an? Wann zog er los, um zu recherchieren? Wann beginnt bei seiner Frau die Angst um ihren Mann? Wie beschäftigt sie die Tochter (mit einem Ausschneide-Bogen für einen Hampelmann, der Sohn Ferdinand ist zu dieser Zeit in der Schule). Wie beruhigt sie die Mutter, die aus Deutschland anruft und wissen will, ob sie in New York in Sicherheit sind?
Das erste Viertel des Buches erzählt als Vorgeschichte Osangs New-York-Traum und Anja Reichs Albtraum, hier als Familie mit zwei kleinen Kindern zu leben. Ihre Wohnungssuche, die zum Abenteuer mit gutem Ausgang wird, und alles, was dazu gehört, ergeben ein so noch nicht gelesenes New-York-Porträt. Schlechte Erfahrungen und gute. Vergleiche zu Deutschland, bei denen New York nicht mithalten kann und dann doch alles in den Schatten stellt. Weil – liest man bei Osang: »Die Straßen und die Bürgersteige summen«. Ein Ost-Berliner Freund wird zitiert: »… ihn erinnere das Viertel am Morgen an die Sesamstraße«. »Man hat das Gefühl«, schreibt Osang, »in ein Broadway-Musical zu steigen«, wenn die Stadt einen mitnimmt, wenn man nach draußen geht. Bei Anja Reich verschwindet der Albtraum rasch und die Nachbarn bekommen Gesichter, deren Freundlichkeit einlädt.
Mitten in dieses helle New-York-Bild bricht der dramatische 11. September 2001 ein – ein Tag, von dem man nicht ohne Grund sagt, danach war die Welt eine andere, bis heute. In New York dachten sie damals, es ist Krieg, er hat schon begonnen oder wird gleich beginnen.
In ihrem Buch beginnt die Erinnerung an die Ereignisse unspektakulär: In Manhatten soll es brennen, nichts Genaues weiß man. Schau mal nach, sagt das Büro. Zwischen den Eheleuten Osang-Reich wird die Frage diskutiert: Gehen wir zusammen nachschauen? Und wieder – auch das wird sehr schön von Anja Reich erzählt – die aus Vernunft gegebene Absage der Frau: Ich kümmere mich um die Kinder! Anja Reich ist nicht weniger Journalistin, als ihr Mann Journalist ist. Nur er darf für sich in Anspruch nehmen: Mich hat 1999 der SPIEGEL hierher geschickt, der zahlt mir mein Gehalt und einen Mietzuschuss und einen Heimflug im Jahr. Also geht der Mann, und der Frau bleiben die Fernsehbilder und der Ausschneidebogen mit einem Hampelmann für die Tochter. Und die Angst, als nach und nach die Nachrichtenlage klar wird.
Osang und Reich beschreiben genau, lassen den Leser teilhaben an ihrem Teil von allem, was an diesem Tag Unbegreifliches geschehen ist. Damit wird ihr Buch auch zu einem Erinnerungsspeicher an einen Tag, der mittlerweile Geschichte ist, aber eine, die bereits im Rückspiegel anfängt, unscharf zu werden. Reflexion wird lange aufgeschoben, das Unvergleichbare wird nicht zum Vergleichbaren gemacht. Das ist die eine Qualität des Buches.
Die andere ist der Mensch im Moment der Katastrophe. Vielleicht nicht der Mensch, aber doch Anja Reich und Alexander Osang, der SPIEGEL-Korrespondent in New York, den sein Ehrgeiz treibt, immer ganz dicht dran zu sein, um endlich etwas zu erleben, »das man nicht auch am Fernseher erleben kann«. Er erzählt, wie er es schafft, durch die Polizeisperre an der Brooklyn Bridge zu schlüpfen, wie er – als der erste schon gestürzt ist – bis an den zweiten Turm herankommt. Bis auf zweihundert, vielleicht hundertfünfzig, vielleicht hundert Meter heran, als auch dieser zusammenbricht und Osang vor der hausgroßen Schuttlawine so schnell wegsprintet, wie er kann. Er lässt den Leser teilhaben an der Flucht vor dem Staub, der die Lungen verstopft und in die Augen beißt, auf der Flucht vor der Stille, die mitten in dieser Katastrophe zu hören ist: »Es ist ganz still« – es ist eine Flucht, und er schafft es, sich in den Keller unter einem Wohnhaus zu retten.
Dort begreift er, was hinter seinem Ehrgeiz steckt: »Ich wollte wieder nur gewinnen, besser sein als die anderen, alles richtig machen, näher dran sein … es sind die Minderwertigkeitskomplexe, die mich hierher (in den lebensrettenden Keller) getrieben haben. Weil ich aus dem Osten komme, weil ich ein dickes, sommersprossiges Kind war, weil ich früher Katholik im Sozialismus sowie Sozialist in der katholischen Kirche war und nun ein Ostdeutscher im Westen bin …« Erst muss die Schockstarre weichen, bevor er anfängt, im Keller von den Anderen O-Töne einzusammeln.
Abgesehen von einigen melodramatischen Momenten – es sind vor allem die Selbstvorwürfe, deren Komik nicht recht aufgeht –, ist der Korrespondent und Romanautor in diesen Erzählpassagen ganz bei sich. Und Anja Reich ist es nicht weniger, wenn sie überlegt, was sie den Anrufern aus Deutschland sagen soll: »Nein, tut mit leid, mein Mann ist nach Manhattan gefahren, ich bin bei den Kindern in Brooklyn geblieben. Ich habe ferngesehen wie Sie und ich habe versucht, einen Hampelmann zusammenzubasteln.«
Beiden gelingt es, in ihrem Buch den Moment zu speichern, wenn ein Ereignis zur Geschichte wird und man dieses Ereignis nicht als Fernsehnachricht serviert bekommt. Osang fallen von seinen vielen Kopfbildern zuerst die von der Katastrophe des Luftschiffs Hindenburg ein. Er kann schreiben: »Ich war dabei. Es ist etwas ganz Großes passiert, und ich war dabei.« Es sind ehrliche Sätze, hat man das Gefühl, denn sie sind gegenüber den dreitausend Toten unkorrekt. Aber das nehmen beide Autoren dieses Buches auf sich, und so packt ihre Geschichte, die sie über den 11. September 2001 erzählen.
Anja Reich/ Alexander Osang: Wo warst du. Ein Septembertag in New York. Piper. 272 S., geb., 19,99 €.
Für das Titelbild wurde eine Zeichnung von Sohn Ferdinand verwendet, die dieser (beinahe wirkt es prophetisch) weit vor dem 11. September 2001. Ferdinand, der kleine Sohn von Anja Reich und Alexander Osang, war in New York in der Schule, als die Türme einstürzten. Das schockierende Geschehen hat er in Zeichnungen verarbeitet. Durch sie erhält das Buch einen besonderen Akzent.
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