Botschaften der Einsamkeit

»Secret Universe« präsentiert Werke von Horst Ademeit im Hamburger Bahnhof

  • Manuela Lintl
  • Lesedauer: 3 Min.
Horst Ademeit: Ohne Titel
Horst Ademeit: Ohne Titel

Die radikalste Erweiterung des Kunstbegriffs geht auf Joseph Beuys zurück, dessen anthropologischer Kreativitätsbegriff gerne auf das inflationär gebrauchte Zitat »Jeder Mensch ist ein Künstler« reduziert wird. Und so wäre ohne die von Beuys initiierte Erweiterung des Kunstbegriffes eine Ausstellung wie »Secret Universe« mit Polaroids, Kalendarien und Gegenständen aus dem Privatbesitz des Kölners Horst Ademeit (1937-2010) im Hamburger Bahnhof, Berlins Museum für Gegenwartskunst, undenkbar.

Denn Horst Ademeit hat sich selbst nicht als Künstler verstanden, auch nicht als Autodidakt, dabei aber sein Privatleben jahrzehntelang auf ungewöhnlich stringente, zwanghafte, forschende und einfach auch nur verschrobene Art und Weise akribisch dokumentiert und symbolisch geordnet. Nach dem Kauf einer Polaroidkamera begann Ademeit mit der täglichen fotografischen Dokumentation seiner unmittelbaren Umgebung, auch zum Nachweis unsichtbarer Strahlen von Elektro-, Laser- und Röntgenstrahlen bis hin zu sogenannten Kältestrahlen, von denen er sich bedroht fühlte.

So ist seit 1990 ein Konvolut von über 6000 Polaroidfotos und Leporello-Kalendarien entstanden, eng beschriftet mit einer ohne Vergrößerungsglas kaum lesbaren Mikroschrift, in der Ademeit persönliche Notizen etwa über Radionachrichten, Fußballergebnisse, Wetterberichte, Beobachtungen, Gerüche, Geräusche oder selbst erstellte Messwerte festhielt.

Die Polaroids können unterteilt werden in Tagesfotos und Observationsbilder. Auf ihnen sieht man Ausschnitte aus häuslichem Umfeld, Titelblätter von Boulevardzeitungen, Messgeräte und Lebensmittel sowie aus der weiteren Umgebung Stromzähler, Baustellen, Türspione oder Sperrmüll.

Das ungewöhnliche, gigantische Kalendarium Ademeits mit starker bildnerischer Kraft, gekennzeichnet durch Eigenwilligkeit und Unabhängigkeit, wurde vor zwei Jahren zunächst vom Kunsthandel per Zufall entdeckt. Horst Ademeits Schöpfungen wurden als sogenannte Outsider-Art (eine Erweiterung des Begriffs »Art Brut« für autodidaktische Kunst von Laien, Kindern und Menschen mit geistiger Behinderung) mit deutlichen Bezügen zur Konzeptkunst vermarktet. Die Kölner Galerie Zander präsentierte 2009 noch zu Lebzeiten Ademeits erstmals in einer Einzelausstellung seinen privaten Bild- und Dokumentationskosmos.

Die jetzige, als »geheimes Universum« betitelte Ausstellung von Horst Ademeit im Hamburger Bahnhof ist seine erste Präsentation im musealen Kontext und zugleich Auftakt einer auf drei Jahre angelegten Ausstellungsreihe des Hauses, in der – kuratiert von Claudia Dichter – vergleichbar ungewöhnliche Grenzpositionen von Einzelgängern gezeigt werden sollen.

Das finanziell von der »About Change Stiftung« unterstützte Projekt hat eine provokative Komponente, denn man möchte Grenzen des etablierten Kunstdiskurses aufbrechen und Kunstkritik und Kunstbetrieb gleichermaßen herausfordern. Auch das Publikum wird aufgefordert, Stellung zu beziehen zur Frage: »Was ist Kunst?«. Die Einordnung der Werke Ademeits in den Kontext von Street Photography und Konzeptkunst, hier besonders die Nähe zu Hanne Darboven, On Kawara und Roman Opalka, ist dabei ein hilfreiches Konstrukt, um der Bilderflut zu begegnen, ohne darin bloß skurrile Zeugnisse eines verschrobenen Zeitgenossen zu sehen.

1937 in Köln geboren, absolvierte Ademeit eine Anstreicherlehre, studierte dann Textildesign und wechselte an die Kölner Werkkunstschule. Auch war er 1970 kurzzeitig bei Joseph Beuys an der Düsseldorfer Kunstakademie immatrikuliert, der Ademeits akademische Arbeitsweise jedoch als »Kunstgewerbe« bezeichnet hat.

Der Kunstgriff, ein Privatarchiv, das normalerweise wohl auf dem Sperrmüll gelandet wäre, in den Kunstkontext zu überführen, besteht darin, es mit der Aura des Rätselhaften und Geheimnisvollen zu versehen und in Verbindung mit gängigen Strategien der zeitgenössischen Kunst zu setzen. Doch handelt es sich dadurch schon um Kunst? Wer dieser Frage nachgehen will, sollte die neue Ausstellungsreihe im Hamburger Bahnhof nicht verpassen.

Bis 26.9., Hamburger Bahnhof, Invalidenstr. 50-51, Moabit, geÖffnet: Di.-Fr. 10-18 Uhr, Sa. 11-20 Uhr, So. 11-18 Uhr, Eintr.: 8/4 Euro, Katalog: 24,80 Euro, www.hamburgerbahnhof.de

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