Nirgendwo sonst stürzen mehr Flugzeuge ab
Russland will Lizenzvergabe und Sicherheitsbestimmungen für zivile Luftfahrt drastisch verschärfen
Viele der rund 130 Airlines, die sich derzeit den Himmel über Russland teilen, dürften Mitte November zum letzten Mal abheben. Dann nämlich sollen neue, rigide Sicherheitsbestimmungen in Kraft treten, wie sie Präsident Dmitri Medwedjew nach dem Flugzeugabsturz bei Jaroslawl letzten Mittwoch, bei dem die gesamte Eishockeymannschaft der Wolga-Stadt ums Leben kam, von der Regierung forderte. Dieses Jahr sei das mit Abstand schlimmste für Russlands zivile Luftfahrt gewesen, sekundierte sogar das Staatsfernsehen. Mit bisher insgesamt acht Abstürzen und »harten Notlandungen«, bei denen insgesamt 119 Menschen starben, sei Russland zum Spitzenreiter der internationalen Negativ-Statistik der zivilen Luftfahrt aufgestiegen.
Nun soll alles anders und vor allem besser werden. Airlines, die nicht über mindestens zehn Flugzeuge mit einer Kapazität von insgesamt wenigstens 500 Sitzplätzen verfügen, verlieren ihre Lizenz. Wer übrig bleibt, muss seinen Park radikal modernisieren. Menschliches Leben habe mehr Wert alles andere, befand Medwedjew und zückte das Schlachtmesser gegen eine Heilige Kuh: Die russische Luftfahrtindustrie. Wenn die partout nicht aus der Knete käme, so der Kremlchef wörtlich, müsse man halt auf Importe umsteigen.
Experten sind skeptisch – trotz der Statistiken, die Verkehrsminister Igor Lewitin vorlegte. Demzufolge wickeln ganze zehn Airlines 85 Prozent aller Linienflüge ab. Die übrigen 120 fliegen vor allem regionale Kurzstrecken oder Charter. Und hätten, so der Minister mit gerunzelten Brauen, alle Havarien im laufenden Jahr zu verantworten.
Die Größe des Flugzeugparks, hielt Alexei Sinitzki von der Fachzeitschrift Fliegerrundschau dagegen, habe null Einfluss auf dessen Wartung und damit auf die Flugsicherheit. Das Aus für kleine Airlines und die Umstellung auf Westimporte bedrohe zudem die Mobilität ganzer Regionen: »Kleine Airlines fliegen vor allem entlegene Ziele an, woran die großen wegen des geringen Passagieraufkommens kein Interesse haben« Anders als in den USA, wo der Staat, um das Streckennetz ständig zu erweitern, Zuschüsse gibt an Airlines, die unrentable Strecken bedienen, habe Russland diese Möglichkeit seit der Liberalisierung der zivilen Luftfahrt 1993 nicht mehr. »Im Hohen Norden und bestimmten Gegenden in Fernost, wo Straßen oder gar Eisenbahnlinien fehlen, gibt es aber zum Flugzeug keine Alternativen.«
Vor allem dort versehen auch noch die Jaks und die Antonows treu ihren Dienst: Robuste Allwetterflugzeuge, die notfalls auf einem Kartoffelacker oder einem vereisten Gewässer landen können. Schon im kommenden Jahr sollen sie aus dem Verkehr gezogen werden, obwohl westliche Flugzeugbauer bisher nichts Vergleichbares zu Stande gebracht haben.
Auch Piloten werden häufig noch an ähnlich alten Schulflugzeugen ausgebildet. Das Cockpit eines modernen Jets , ätzte Testflieger Dmitri Barilow beim Staatssender RTR, würden viele Flieger aus der Provinz im Moskauer Trainingszentrum von Staatscarrier Aeroflot zum ersten Mal von innen sehen. Schon allein daran dürften Pläne scheitern, den Anteil von Boeing und Airbus von derzeit 80 Prozent auf hundert hochzufahren. Dazu, so Boris Rybak von der Consulting-Firma Infomost, müssten auch die Strafzölle für die Einfuhr von Ersatzteilen abgeschafft werden, die der Staat in den letzten fünfzehn Jahren verhängte, um die heimischen Hersteller zu schützen.
Vor allem aber, so Oleg Smirnow, in der UdSSR Vizeminister für zivile Luftfahrt, müsste der Staat erneut die Kontrolle bei der Einhaltung der Sicherheitsbestimmungen übernehmen. Derzeit würde sich die jede Airline selbst schreiben und mit Kontrollen private Sicherheitsfirmen betrauen. Das könne man doch gleich auch die Straßenverkehrsordnung abschaffen und Bus- oder Taxi-Unternehmen bitten, sich neue Regeln doch gefälligst selbst zu schreiben.
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