Derry ist großartig – aber auch ein bisschen irre

Nordirlands zweitgrößte Stadt Londonderry ist britische Kulturhauptstadt im Jahr 2013

  • Karsten-Thilo Raab
  • Lesedauer: 8 Min.
Dunkle Regenwolken und die einsetzende Dämmerung, aber auch die leeren Straßen, in denen nur wenige Pubs geöffnet haben, und die mit schweren Gitterverschlägen verrammelten Fensterauslagen der Geschäfte verleihen Londonderry etwas Gespenstisches. In der Luft liegt eine eigenartige Spannung.

Die Atmosphäre im Zentrum der zweitgrößten Stadt Nordirlands wirkt eigentümlich an diesem Sonntagabend. Am nächsten Morgen ist von alledem nichts mehr zu spüren. Strahlend blauer Himmel, pulsierende Straßen und Gassen rund um »The Diamond«, dem zentralen Platz im Herzen der »Walled City«, die von einer pittoresken Stadtmauer aus dem 17. Jahrhundert umgeben ist. In einigen Abschnitten bis zu neun Meter breit und acht Meter hoch umspannt der 1,5 Kilometer lange Wall die historische Altstadt, die malerisch auf einem Hügel über dem River Foyle thront.

»Londonderry ist unglaublich schön, aber auch ein bisschen irre«, meint Tony Malley. Der Mittfünfziger mit dem schütteren Haar, tätowierten Unterarmen und dem stattlichen Bierbauch muss es wissen. Denn er hat sein ganz Leben hier verbracht. Nach Jahren der Arbeitslosigkeit verdient er heute seine Brötchen als Taxifahrer. Und gerne erzählt er seinen Kunden, vor allem jenen, die nicht aus Londonderry stammen, über seine Heimatstadt, die im Jahre 2013 den Titel »Britische Kulturhauptstadt« tragen darf.

»Es ist schon komisch. Früher gab es Stadtteile, da konnte ich mich nicht hinein wagen«, erinnert sich der gläubige Katholik ungern an die 1970er und 1980er Jahre. »Da mussten Eltern jeden Abend Angst haben, dass ihre Kinder nicht nach Hause kommen oder Opfer von Gewalttaten werden«, gesteht Tony Malley mit Blick auf die Angstherrschaft des Terrors, die die malerische Stadt am Foyle lange fest im Griff hatte. Denn das kulturelle Zentrum im Norden der Grünen Insel war über viele Jahrzehnte ein Symbol des Widerstands. Schon die Nennung des Stadtnamens galt als politische Aussage.

Zentrum politischer Unruhen

Die katholischen Republikaner und Nationalisten nennen die Stadt, die auf eine Klostergründung des heiligen St. Columba im 6. Jahrhundert zurückgeht, konsequent »Derry«. Für die protestantischen Royalisten heißt sie Londonderry. Lange galt die Metropole am Foyle als ein Zentrum der politischen Unruhen in Nordirland, das seit dem 17. Jahrhundert unter britischer Herrschaft steht. 1608 war Derry von den Engländern erobert worden. Die protestantischen Engländer, die nun hier angesiedelt wurden, tauften die Stadt kurzerhand um. In den kommenden Jahrzehnten versuchten die Katholiken immer wieder vergeblich, die Stadt zurückzuerobern.

Vom 7. Dezember 1688 bis 12. August 1689 belagerte die Armee von James II. die Stadt. Angestachelt von den glühenden Predigten des Reverend George Walker trotzten die Bewohner für 105 Tage erfolgreich den Jakobitern, bis der Gouverneur von Londonderry, Robert Lundy, angesichts der aussichtslos scheinenden Lage, zur Übergabe der Stadt bereit war. Doch 13 Lehrlinge, die sogenannten Apprentice Boys, verriegelten kurz entschlossen die Stadttore mit den Worten »No surrender«. Diese Aktion brachte Londonderry den Ruf als »Maiden City«, als eiserne Stadt, ein und wurde für die Protestanten zum Symbol der siegreichen Auseinandersetzung mit den Katholiken.

Im 19. Jahrhundert etablierte sich in Londonderry eine florierende Baumwoll- und Leinenindustrie. Die überwiegend katholischen Arbeiter und deren Familien wurden in der sogenannten Bogside (Bog = Moor), einem Moorgebiet vor den Toren der Stadt, angesiedelt. »Das war quasi eine Zweiklassengesellschaft. Hier lebten die Ärmsten der Armen und auf der anderen Seite der Stadtmauer die Reichen«, so Tony Malley, der selber in der Bogside aufwuchs.

Durch die Unabhängigkeit der Republik Irland und der daraus resultierenden Teilung der Grünen Insel wurde Londonderry 1921 quasi über Nacht zur Grenzstadt. Die Absatzmärkte im Hinterland brachen weg. Die einsetzende Rezension traf insbesondere die ohnehin finanziell nicht auf Rosen gebeteten Arbeiter hart und lieferte zusätzlich zu der historischen Entwicklung Zündstoff für die immer größer werdenden Spannungen und handfesten Auseinandersetzungen zwischen Protestanten und Katholiken. 1969 errichteten die Bewohner der Bogside Barrikaden um ihr Viertel und erklärten es zum »Free Derry«, zum freien Derry.

Als trauriger Höhepunkt der »Troubles« gilt der 30. Januar 1972. Dieser Sonntag, der als »Bloody Sunday« Eingang in die Geschichtsbücher fand, erschossen bei einer friedlichen Demonstration britische Fallschirmjäger 13 unbewaffnete Katholiken. Ein folgenschweres Ereignis, das Straßenschlachten und Bombenanschläge in ganz Nordirland zur Folge hatte und die IRA zu neuem Leben erweckte. Viele, viele Tote, unzählige Schießereien und Bombenattentate, aber auch Hausdurchsuchungen und eine Welle von Verhaftungen brachten fortan Londonderry eine traurige Berühmtheit.

Immer wieder wurden die proklamierten Waffenruhen gebrochen. Gewalt, Angst und Hass dominierten nun den Alltag am River Foyle. Eine traurige Entwicklung, die seit 1998 glücklicherweise der Vergangenheit angehört. Denn nach langwierigen und zähen Verhandlungen konnte in den Ostertagen jenes Jahres das sogenannte »Karfreitagsabkommen«, das eine dauerhafte Deeskalation, die Entwaffnung aller Terrororganisationen in Nordirland sowie eine weitgehende Selbstbestimmung des Landes beinhaltet, unterzeichnet werden. Zwar blieben auch danach ab und an leichte Spannungen nicht aus, doch inzwischen ist in Nordirland und im einstigen Unruheherd Londonderry der Frieden eingekehrt. Und mit ihm finden mehr und mehr Touristen den Weg nach Ulster und speziell nach Londonderry, das als Europas Kulturhauptstadt 2013 ganz besonders in den Fokus rücken wird.

»Derry ist großartig. Hier gibt es viel zu sehen. Und die Spuren der Troubles üben auf alle eine gewisse Faszination aus«, freut sich nicht nur Tony Malley über die Ernennung seiner Heimatstadt zur kulturellen Kapitale. Mit den zu erwartenden Touristen etablierten sich neue, bis dahin in Londonderry unbekannte, lukrative Geschäftsfelder für Hoteliers, Gastronomen und Souvenirverkäufer. Und dies nicht von ungefähr. Denn die 85 000 Einwohner zählende Stadt hat neben dem langen Schatten einer bewegten Vergangenheit tatsächlich besonders innerhalb der Stadtmauer und in der nahegelegenen Bogside einiges zu bieten.

Das legendäre Arbeiterviertel mit der markanten Mauer mit der Aufschrift »You are entering Free Derry« besticht durch riesige beeindruckende Wandmalereien, »Murals« genannt. Diese erinnern an den »Bloody Sunday« und an viele andere negative Höhepunkte der »Troubles«. Und auch die gewaltigen und inzwischen verwaisten Wachtürme der britischen Besatzer, insbesondere am 1789 im Stile eines Triumphbogens errichteten Bishop's Gate, sind mahnende Zeugen der unrühmlichen Vergangenheit Derrys.

Ein mittelalterliches Dorf als Nachbau

»Eigentlich kann man in Londonderry alles bequem zu Fuß machen. Aber das sage ich Ihnen nicht, dann ist ja mein Geschäft kaputt«, flachst Tony Malley, der großen gefallen daran findet, Touristen »sein« Londonderry näher zu bringen. Das Gros der Sehenswürdigkeiten konzentriert sich mit Ausnahme der Guildhall, des neogotischen Rathauses aus dem Jahre 1890, innerhalb der Stadtmauern. Die jeweils gegenüberliegenden Tore Bishop-, Shipquay-, Ferryquay- und Butcher's Gate markieren die Grenzen der Altstadt, deren Straßen im Hauptplatz »The Diamond« zusammenlaufen. Nur einen Steinwurf von der Shipquay Street, einer der innerstädtischen Hauptachsen, entfernt, befindet sich das Craft Village, das mit seinen zahllosen Nachbauten wie die Schablone eines mittelalterlichen Dorfes wirkt und vor allem Kunsthandwerk, Pubs und Cafés beheimatet. Hier sorgte die Stadtverwaltung für eine mixed community – man achtete bei der Vergabe der Wohnungen, die im ersten Stock über den Geschäften und Cafes liegen, darauf, so Tony Malley, nur junge Familien mit einem 50:50 Verhältnis von Katholiken und Protestanten anzusiedeln.

Zwischen Bishop's, dem nachträglichen eingebauten New Gate und dem Ferryquay Gate liegt das älteste Gotteshaus innerhalb der Stadtmauern: die St. Columb's Cathedral. Zwischen 1628 und 1633 wurde die protestantische Kirche, in deren Inneren die ersten Kirchenglocken Irlands zu bestaunen sind, im neogotischen Stil errichtet.

Bischof Herveys »Bescheidenheit«

Eng verwoben ist die Geschichte des Gotteshauses mit der illustren Person von Bischof Hervey (1730-1803), der Londonderry während seiner Amtszeit nachhaltig prägte. Mit bürgerlichem Namen hieß dieser Frederick Augustus Hervey, 4. Earl of Bristol, und er tat sich nicht gerade durch Bescheidenheit hervor. Zitate wie »Es gibt drei Sorten von Menschen: Männer, Frauen und Herveys« werden ihm zugeschrieben.

»Die erste stadtnahe Brücke über den River Foyle wurde nur gebaut, um Hervey den Weg zu seiner Geliebten zu verkürzen«, schenkt Tony Malley noch heute den Geschichten und Anekdoten um den Geistlichen Glauben. Der überaus lebenslustige und sinnenfreudige Bischof starb am 8. Juli 1803 angeblich in Folge eines »allzu guten Leben«: Zu oft hatte er das von ihm erfundene Getränk Herveys Bristol Cream, ein Sherry, der heute noch in blauen Flaschen verkauft wird, verkostet. Ein Abbild des lebensbejahenden Bischofs ist in einem Seitenraum der St. Columb's Cathedral zu besichtigen, ebenso wie sein wuchtiger Schreibtisch mit Lederbespannung.

Im Vorraum der Kathedrale liegt auch eine basketballgroße Eisenkugel auf einem Metallständer. Dies ist die einzige Kanonenkugel, die während der Belagerung von Derry ins Innere der Stadtmauer geschossen wurde. Die Kugel explodierte aber nicht und blieb im Ganzen erhalten. Der Grund dafür: Bei diesem Exemplar war das Loch nicht mit Kanonenpulver gefüllt, sondern mit einem Friedensangebot, das die Einwohner von Derry jedoch ausschlugen. Diese Kanonenkugel wiegt 57 Kilogramm und wird von Tony Malley bezeichnenderweise »als erste Luftpost der Welt« tituliert.

»God shave the Queen«, lacht der charmante Cabbie, wie die Taxifahrer liebvoll genannt werden, sichtlich amüsiert, als wir wenig später das protestantische Wohnviertel entlang der London Street erreichen. Hier sind die Bürgersteige und Laternenmasten in blau, weiß und rot gestrichen – den Farben des »Union Jacks«, der britischen Flagge. Und mit einer überdimensionalen Wandmalerei dokumentieren die Bewohner ihre Treue zur britischen Krone.

Unweit des Shipquay Gates säumen gut erhaltene Kanonen aus dem 17. Jahrhundert die Stadtmauer, während das angrenzende Tower Museum Exponate zur bewegten Geschichte Derrys enthält. Eine lange, wechselvolle Vergangenheit, die beim Gang durch die »Walled City« auf Schritt und Tritt lebendig und nicht allein durch die beeindruckenden »Murals« ins Bild gesetzt wird.

Irland Information
Internet: discoverireland.com
sowie das Derry Visitor und Convention Bureau Internet: derryvisitor.com

Literatur:
Ulrike Katrin Peters & Karsten-Thilo Raab: »Nordirland Reisehandbuch«, Westflügel Verlag, ISBN 978-3-939408-00-0
Karsten-Thilo Raab: »Irland und Nordirland – Auf den Spuren von Heiligen, Dichtern und Denkern«, Morstadt Verlag, ISBN 978-3-88571-325-8

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