Migrantische Heimatkunde
Im Jüdischen Museum blicken zum zehnten Jubiläum des Hauses Künstler auf Deutschland
Die Frage, was deutsch sei, sterbe nie aus, wird Nietzsche in einer langen Vitrine zitiert. Auch das Jüdische Museum stellt sich dieser Thematik, richtet dabei den Blick aus der Gegenwart in eine mögliche Zukunft und macht sich mit dieser Ausstellung gleichsam ein Geschenk zum zehnten Geburtstag. »Heimatkunde« heißt sie schlicht, hat es aber in sich. Denn in 26 Exponaten von 29 Künstlern, von denen manche im Doppelpack kreieren, geht es um nationale Identität. Fast alle Ausstellenden sind indes Menschen mit Migrationshintergrund, leben jetzt unter deutscher Flagge oder waren zumindest zeitweise in der Bundesrepublik.
Ob auch für sie jene nationale Identität greift, sie sogar schon einbezieht oder doch Fremde bleiben lässt, untersuchen sie in Installation, Video und Film, Fotoserie, Gemälde, Druckgrafik. Entstanden ist dabei eine Zusammenschau migrantischen Befindens in teils sehr persönlicher Sicht auf Land, Leute, die eigene Vergangenheit. Holzer Kobler Architekturen, die Gestalter der Ausstellung, haben eine zusätzliche Dimension beigefügt: Den Grundriss des barocken Altbaus haben sie gekippt, gedreht und als weißen Belag dem Boden der Ausstellungsräume aufgebracht. Der Betrachter wandert somit durch schräg angeordnete Kabinette auch auf schrägem Grund und ist gezwungen, intensiver auf die Umgebung zu achten.
In vier Themenschwerpunkte haben die hauseigenen Kuratoren ihre Schau gegliedert. Kunst diversen Umfangs und verschiedensten Naturells, entstanden im letzten Jahrzehnt, ordnet sich dem zwanglos zu. So zeigt der Iraner Maziar Moradi in der Fotoserie »Ich werde deutsch« Szenen aus einem Leben zwischen Bürokratie, täglicher Arbeit und Freizeit. Die Schwestern Anni und Sibel Öztürk verknüpfen in der 16 Meter langen Installation »Das Leben, das Universum und der ganze Rest« persönliche Erlebnisse mit Momenten der Zeitgeschichte, von Mao über Brandts Kniefall, Schleyers Entführung bis zu Rosenthal, Michael Jackson, David Bowie. Fotos übermalter Plakate schaffen zusätzlich Kolorit: »Sonne statt Reagan« oder »Mein Bauch gehört mir« über einem Kohl-Konterfei liest man da. Das verleiht der Schau auch eine politische Komponente. Witzig und tiefenscharf geht die Bosnierin Azra Aksamija Migration an: Der Rock ihres Entwurfs für ein Dirndl lässt sich auch als Gebetsteppich für drei Personen nutzen.
Rund 150 Dokumente seiner Familiengeschichte hat der New Yorker Arnold Dreyblatt zur Installation »My Baggage« verdichtet. Sein Koffer ist ebenso dabei wie auf Plexiglas aufgebrachte Repros von Pässen und Fotos: eine transparente Dokumentation umgetriebener Existenz. Die Israelin Maya Zack hat als »Living Room« nach den Beschreibungen eines Flüchtlings ein jüdisches Wohnzimmer aus den 1930ern fotografisch rekonstruiert, das man mit 3D-Brille plastisch begehen kann.
Was den Deutschen ihr Wald bedeutet, damit spielen gleich zwei Arbeiten. Lilli Engels & Raffael Rheinsbergs »Naturkunstzelle« aus hohen Hecken in Form einer Schnecke hat zwar Eingang, jedoch keinen Ausgang, erinnert an barocke Irrgärten, weist wohl gleichsam auf Einbahnstraße wie Rückzugsort hin. Lessing entlehnt Julian Rosefeldts Film »Meine Heimat ist ein düsteres wolkenverhangenes Land« seinen Titel und zelebriert auf vier Spuren mit Ironie Waldfahrt, Theater in der Natur mit Kunstnebel, Tümelei. Weist Özlem Günyol, jüngste Teilnehmerin, in ihrer Video-Installation »Stille Post« auf die Unschärfe gedolmetschter Information hin, so zeigt, fast vier Jahrzehnte älter, Boris Mikhailov aus Charkov in den 46 Heiner Müller gewidmeten Collagen »Look at me I look at water« die bitteren Seiten des Spagats zwischen den Kulturen: der nackte Po als einziges Kapital für die Wechselstube, die nackte Alte, die sich gegen Kartoffelgabe ablichten lässt.
In atmosphärische Ölgemälde gießt der Israeli Eldar Farber Landschaften aus Berlin und Tel Aviv und schüttet so die Gräben tragischer Vergangenheit zu. Die Brasilianerin Maria Thereza Alves hat Berliner Pflanzen zusammengetragen – vom Bayerischen Platz bis zum Gendarmenmarkt – fotografiert und eingetopft und forscht an deren Herkunft weltweiter Verknüpfung der Kulturen nach.
Der Israeli Benyamin Reich tritt mit seiner Fotoserie »Judaica« eine Reise in die orthodoxe Kindheit an (unsere Abbildung); Andrea Büttner fängt »Tanzende Nonnen« in einem großen Holzschnitt ein, zeigt Fenstergitter, die zwei Welten trennen. Via Lewandowskys & Urs Grünbeins »Windhauch, Windhauch« schließlich lockt in ein realitätsnah konzipiertes behördliches Wartezimmer mit Hörerlebnis.
Bis 29.1., Jüdisches Museum, Lindenstr. 9-14, Telefon: (030) 25 99 33 00, www.jmberlin.de
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