Renates großer Sprung ins Nichts

Rekordergebnis und Direktmandate: Wie Sieger wirkten die Grünen gestern dennoch nicht, dazu war der Absturz in Umfragen zu krass

  • Martin Kröger
  • Lesedauer: 3 Min.

Wahlsieger sehen anders aus. Missmutig und auch ein bisschen gereizt kommt die Berliner Führungsriege der Grünen am Montagmorgen rüber. Dabei hätten Spitzenkandidatin Renate Künast, die Fraktionsvorsitzenden Ramona Pop und Volker Ratzmann sowie die Landesvorsitzenden Bettina Jarasch und Daniel Wesener doch allen Grund zum Jubeln. Schließlich erzielten die Grünen mit 17,6 Prozent ihr bisher bestes Ergebnis in der Hauptstadt überhaupt. Absolut rekordverdächtig auch die elf Direktmandate für das Abgeordnetenhaus, die die Ökopartei in den Innenstadtbezirken holen konnte.

Doch allen Rekordwerten zum Trotz werden die Grünen vor allem daran gemessen, wo sie in den Umfragen noch Ende Mai dieses Jahres nach der Atomkatastrophe von Fukushima standen: Da lagen sie in einer Umfrage der Info GmbH mit 31 Prozent vor den Sozialdemokraten. Was dann innerhalb von vier Monaten erfolgte, dürfte einer der größten Abstürze in Umfragen sein, den die Parteiengeschichte in der Bundesrepublik gesehen hat. Doch welche Ursachen hatte der rasante Fall von 14 Punkten in der Wählergunst? Lag es an Renate Künast, der Spitzenkandidatin, der es nicht gelang, den Sound Berlins zu treffen. Oder war es das Offenhalten einer grün-schwarzen Koalition, das für eine Erosion von Stammwählern sorgte? Und welche Rolle spielten die Piraten, die sich ihre Wähler zu einem großen Anteil von den Grünen enterten?

»Wir werden analysieren, wo mehr Wählerpotenzial drin gewesen wäre«, kündigte Renate Künast gestern selbstkritisch an. Auf Nachfrage beschrieb Volker Ratzmann plastisch, wie die Partei selbst den Umfrageabsturz interpretiert: »Wir sind gesprungen und haben gesagt, wir wollen nach einem neuen Ziel greifen«, erläuterte Ratzmann. Gemeint ist der Griff nach dem Posten des Regierenden Bürgermeisters. »Eine neue Dimension für die Grünen« sei dies gewesen. Sozusagen wie in einer »neuen Liga« mitzuspielen. Laut Ratzmann habe sich der Mut zu springen für die Grünen dennoch ausgezahlt. »Wir sind ziemlich weit gesprungen.«

Auf Renate Künast übertragen, könnte sich der große Sprung nach vorn der Grünen jedoch als großer Sprung ins Nichts erweisen. Denn inwiefern sich Künast mit ihrer Kandidatur selber innerparteilich schwächte, wird man erst sehen.

Den »Gegenwind« im Wahlkampf hatte Künast jedenfalls nicht so erwartet. »Die Konkurrenz ist noch schärfer mit uns umgegangen.« Aber was hatte die Grüne-Spitzenkandidatin im Kampf um das Mitte-Links-Reservoir erwartet? Dass sie mit Samthandschuhen angefasst wird sicher nicht.

Dass die siegreichen Piraten Fleisch vom Fleische der Grünen seien, hielt der Landesvorsitzende der Grünen, Daniel Wesener, gestern für einen Fehlschluss. Ein Erstwählerproblem haben die Grünen aus Sicht Weseners nämlich nicht. »Bei 16- bis 17-Jährigen stehen wir sehr gut da«, sagte Wesener. Auch beim Thema Online sei die Partei programmatisch gut aufgestellt. Wäre es in Berlin um einen reinen Online-Wahlkampf gegangen, dann hätte Renate Künast sicher gewonnen, so Wesener. Also muss es etwas anderes gewesen sein. »Vielleicht ging es um rein spezifisches Piratenerlebnisgefühl, die Spree mit einem Floß langzuschippern«, vermutete Künast. Ein bisschen mehr Gefühl hätte der sachlich-routinierten Künast im Wahlkampf sicher nicht geschadet, aber das bloße Spekulieren zeigt: Auch die Grünen stehen mit ihrer Wahlanalyse erst am Anfang.

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