Neuer Vormarsch der Pinguine

Über 100 000 Schüler, Studenten und Lehrer demonstrieren in Santiago für ein gutes und kostenloses Bildungssystem

  • Gerhard Dilger, Porto Alegre
  • Lesedauer: 4 Min.
Das chilenische Bildungssystem ist ein Erbe der Pinochet-Diktatur (1973-1990). Unter Pinochet wurde das Bildungssystem privatisiert und dezentralisiert. Die Konsequenz: Es spiegelt mehr und mehr die soziale Ungleichheit wider. Reiche Sprösslinge von den teuren Privatschulen reüssieren bei den Aufnahmetests zu den Universitäten fast immer. Dem Rest bleibt nur, die nicht vorhandenen Chancen zu nutzen. Seit Juni laufen Schüler, Studenten und Lehrkräfte Sturm gegen das Bildungssystem und den rechten Präsidenten Sebastian Piñera. Der zeigt sich bisher nur zur Kosmetik bereit.

Es war der bislang wohl schwierigste Test für Chiles bunte Bildungsbewegung: Wie viele Menschen würde sie am Donnerstag auf die Straße bringen, nachdem die Regierung von Präsident Sebastián Piñera im September wieder Oberwasser bekommen hatte? Es waren wohl Hunderttausende im ganzen Land – Prüfung bravourös bestanden!

Die Atempause ist vorbei: Nach drei bangen Wochen sind die Schüler und Studenten samt ihrer Lehrer wieder in die Offensive gegangen. Allein in der Hauptstadt Santiago zogen am Donnerstag weit über 100 000 Bildungsbewegte durch die Innenstadt – selbst wenn Gouverneurin Cecilia Pérez am Abend erklärte, es seien nur 60 000 gewesen. Auch in vielen anderen Städten wurde gegen das Bildungssystem demonstriert, das auf die Pinochet-Diktatur zurückgeht. Das traditionelle Töpfeschlagen rundete den Protesttag ab.

Es war die weitaus größte Kundgebung in Santiago in diesem Monat, seit dem Beginn der Proteste Ende April die viertgrößte. »Die Bewegung hält stärker zusammen, und unsere Überzeugungen sind fester sind denn je«, sagte Studentensprecher Giorgio Jackson von der Katholischen Universität, das neben der Kommunistin Camila Vallejo bekannteste Gesicht der Bewegung.

Der Politologe Marco Moreno von der Zentraluniversität sprach von einem »Wendepunkt« und »neuem Auftrieb« für Schüler und Studenten. Wegen eines Flugzeugabsturzes am 2. September, bei dem mehrere Prominente umkamen, waren die Straßenkundgebungen in den letzten Wochen abgeflaut. Ein Dialog kam nicht zustande, weil die Regierung weder ihrer Gesetzesentwürfe im Parlament zurückziehen noch das Semesterende an den staatlichen Unis verschieben wollte.

Ganz offensichtlich spielte Piñera auf Zeit. Doch Anfang der Woche goss er mit der Ankündigung, mindestens 70 000 Schüler müssten das Schuljahr wiederholen, wieder Öl ins Feuer – für die frühere Bildungsministerin Mariana Alwyn war diese Ankündigung, die der Staatschef zwei Tage später wieder zurücknahm, »äußerst ungeschickt«.

»Die Schlacht um die Zukunft müssen wir in den Klassenzimmern gewinnen«, tönte Piñera auf der UN-Vollversammlung in New York, zeitgleich zum Protestmarsch in Santiago. Tausende junger Chilenen gingen für eine »edle, wunderbare und legitime Sache« auf die Straße, sagte er und kündigte eine »wirkliche Revolution« im Bildungswesen an, darunter »kostenlose Bildung für alle, die es brauchen, und adäquate Finanzierung für alle anderen«.

»Unter dem Druck der Bewegung beginnt die Regierung, zurückzurudern«, meint der Politologe Moreno: Er bescheinigt dem Staatschef aber auch »fehlende Kohärenz, und das nicht zum ersten Mal«. Regierungssprecher André Chadwick räumte ein: »Es war ein Fehler, von einem Verschleiß der Bewegung zu reden«.

Woche für Woche gehen Schüler, Studenten und Lehrer für ein hochwertiges und kostenloses Bildungssystem auf die Straße, Hunderte von Schulen und Fakultäten sind seit Juni besetzt. Mit ihren Forderungen sympathisieren vier Fünftel der Bevölkerung, der Rückhalt für Piñera lag zuletzt nur noch bei 27 Prozent.

Für die Schulbildung ist seit der Pinochet-Diktatur nicht mehr der Zentralstaat verantwortlich, sondern die oft verarmten Kommunen. Zudem werden viele Privatschulen staatlich subventioniert, doch die Kontrollen sind mangelhaft: Allzu oft bereichern sich die privaten Träger, weshalb die Forderung »Keine Profite mehr in der Bildung« besonders populär ist.

Privat sind bereits 60 Prozent der Schulen und Universitäten. Insgesamt wird nur ein Viertel des Bildungswesens vom Staat finanziert, drei Viertel müssen die Schüler und Studenten aufbringen. Viele Studierende starten deshalb mit einem hohen Schuldenberg ins Berufsleben.

Je länger die Proteste anhalten, desto weniger verfängt auch die Öffentlichkeitsstrategie der Regierung: Um Gewaltbilder zu produzieren, schlug die Polizei auch am Donnerstag wieder unvermittelt mit Wasserwerfern und Tränengas los, weil die Abschlusskundgebung nur bis 14 Uhr genehmigt war. So konnte Gouverneurin Pérez 24 verletzte Polizisten beklagen: »Das ist sehr bedauerlich, dahinter gibt es Gesichter und Namen«. 50 Menschen, darunter 27 Minderjährige, seien verhaftet worden, sagte Piñeras Parteifreundin.

»Wir hoffen, dass die Regierung ihren Hühnerhaufen in Ordnung bringt und dann den Dialog ermöglicht«, meinte Studentensprecher Giorgio Jackson gelassen und bekräftigte: Am 29. September soll wieder demonstriert werden. Die Pinguine sind zurück.


Zahlen und Fakten: Bildungssystem à la Pinochet

10. März 1990: Am letzten Tag des Militärregimes von Augusto Pinochet wird das Bildungsgesetz Ley Orgánica Constitucional de Educación (Loce) verabschiedet. Damit wurde unter dem Slogan »Freiheit der Lehre« die Bildung in die Hände des freien Marktes übergeben.

2006: Ab Mai »Revolution der Pinguine«, Massenmobilisierung von Schülern und Studenten. Die schwarz-weißen Uniformen der Sekundarschüler geben dem Aufstand seinen Namen. Regierung der sozialistischen Präsidentin Michelle Bachelet reagiert mit Einrichtung eines »Qualitätsrats«, der Veränderungsvorschläge für das Bildungssystem erarbeiten soll.

2011: Ab April Massenmobilisierung von Schülern, Studenten und Lehrkräften mit dem Ziel, Bildung als ein Grundrecht anzuerkennen. Die Proteste übertreffen in ihrer Intensität den Bildungsstreik von 2006. ML

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