Geltung und Verdrängung
Vor 65 Jahren wurden die Urteile im Prozess gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher verkündet
Die Nürnberger Anklagebehörden konnten sich auf profunde Analysen des »Dritten Reiches« und seines Herrschaftssystems stützen. Voraussetzungen hierfür waren vor allem in Washington durch die Research & Analysis Branch des Office of Strategic Services (OSS) geschaffen worden, eines »brain trusts« von 1200 hoch qualifizierten Wissenschaftlern, darunter Angehörige der »Frankfurter Schule« wie der Philosoph Herbert Marcuse und der Jurist und Politologe Franz Neumann.
Deutscher Behemoth
Neumann wirkte als Forschungsdirektor und dann Stabschef der Einheit des US-Geheimdienstes OSS, die zur Vorbereitung der Kriegsverbrecherprozesse gebildet worden war. In seinem Werk »Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus« (1942) hatte er Existenz und Funktionsweise eines Herrschaftskartells von Partei, Bürokratie, Armee, (Monopol)Wirtschaft und charismatischem Führer nachgewiesen. So konnte der politisch und rassisch verfolgte Jurist und Emigrant Robert Kempner als stellvertretender Chefankläger in Nürnberg anprangern, dass »weite Teile der ?alten? Funktionseliten durch ihre willige Mitarbeit den Krieg und die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen überhaupt erst ermöglicht hatten: Ohne ihre Verwaltung und deren Umsetzung und ohne die Direktiven und Anweisungen, die sie entwarfen, hätte kein Hitler und kein Göring Angriffskriege planen und führen können, kein Himmler hätte 6 000 000 Juden und andere Opfer der nationalsozialistischen Aggression und Ideologie auslöschen können.« Alle Reichsministerien waren an der Verabschiedung und Ausführung von Massenmordbeschlüssen beteiligt, wie dem, dass sich die Wehrmacht aus Russland zu ernähren und noch Überschüsse zu erbringen habe - auch wenn dort »zweifellos zig Millionen Menschen verhungern« werden. Das Gleiche galt für die »Endlösung der Judenfrage«.
Im Hauptkriegsverbrecherprozess und in den zwölf US-Nachfolgeprozessen saß eine repräsentative Auslese der Funktionseliten des »Dritten Reiches« auf den Anklagebänken: Außer den 21 Hauptbeschuldigten 22 Minister und hohe Regierungsvertreter, 42 Industrielle (Krupp, Flick und Manager der IG Farben), 26 militärische Führer, 56 Mitglieder von SS, Gestapo und Polizei sowie 39 Juristen und Ärzte. Verhängt wurden Todesurteile, lebenslange Strafen und z. T. hohe Haftstrafen. Es gab auch Freisprüche. Den Verurteilungen lagen weiterentwickelte Völkerrechtsprinzipien zugrunde, wonach - wie auch im Kontrollratsgesetz Nr. 10 bestimmt - begangene Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen den Frieden und die Menschlichkeit ungeachtet der zur Tatzeit bestehenden nationalen Rechtslage zu ahnden sind: die Nürnberger Prinzipien - rezipiert und fixiert von der International Law Commission der UN am 29. Juli 1950. Daran anknüpfend veröffentlichte der Kontrollrat in seiner Direktive Nr. 38 Richtlinien für die Verhaftung und Bestrafung von Nazi- und Kriegsverbrechern. Sie wurden in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) durch deutsche Gerichte (Befehl 201) umgesetzt, während in den Westzonen Spruchkammern zuständig waren, die nach 1947 massenweise sogar hochrangige Angehörige der NS-Funktionseliten als »Mitläufer« entlasteten.
Die zweite Chance
Die Katastrophe des Kalten Krieges beendete den trotz Divergenzen hoffnungsvollen Kooperationskurs der Antihitlerkoalition, der mit UN, Abschluss von Friedensverträgen, Nürnberger Prozess etc. durchaus Bedeutsames und Nachhaltiges zustande gebracht hatte. Der Kalte Krieg teilte konfrontativ die Welt und setzte andere Prioritäten - im Westen die der Abwehr der »sowjetisch-kommunistischen Gefahr«. Dafür wurde das wirtschaftliche und in Perspektive auch das militärische Potenzial Westdeutschlands gebraucht. Die NS-Funktionseliten witterten ihre zweite Chance. Eine Anti-Nürnberg-Fronde, ein »Entsorgungskartell« für »Schlussstrich«, Amnestie und Rehabilitierung, formierte sich, zu dem auch Exponenten der Kirchen und Medien (u. a. »DIE ZEIT«) gehörten. Die ganze »Nürnberg-Kriminologie« wurde als bloße »Siegerjustiz« disqualifiziert. Es kam zu baldigen Begnadigungen, zur Rückgabe von beschlagnahmten Eigentum anstelle von Sozialisierung, zum Wiederaufstieg von Krupp, Flick etc., zur Restauration ihrer Machtpositionen. Alle Schuld wurde auf den »Dämon« Hitler und seine engsten Getreuen focussiert, aber die faschistische Vergangenheit - und mit ihr der Antifaschismus - gleichzeitig weitgehend verdrängt. Widerständler (zunächst auch die des 20. Juli) und Deserteure galten als »Verräter«. Emigranten stießen auf große Schwierigkeiten, wieder Fuß zu fassen. Der Deutsche Städtetag protestierte in einer Resolution gegen eine vorgesehene Beschäftigung Robert Kempners. Selbst Thomas Mann und auch Marlene Dietrich wurden öffentlich angefeindet. Die Bundesrepublik entstand als parlamentarisch-demokratische Republik in Entgegensetzung zur Nazidiktatur, aber nicht mit antifaschistischer Ausrichtung, sondern in grundgesetzlicher Abkehr von den »Nürnberger Prinzipien«: Art. 103/2 (keine Strafe ohne Gesetz!), Art. 131 (Restauration der NS-Bürokratie) und Art. 16/2 (Auslieferungsverbot). Das Kontrollratsgesetz Nr. 10 wurde als nichtig betrachtet und die Bundesregierung erhob gegen die Nürnberg-Klausel (Art. 7/2) in der Europäischen Konvention für Menschenrechte einen Vorbehalt. Es erfolgte eine Neu-Legitimierung von NS-(Un)Recht, die die Rechtspraxis für Jahrzehnte bestimmte. Im Ausland verurteilte Täter waren geschützt, konnten jahrzehntelang beruhigt und unbehelligt in der Bundesrepublik leben, wie z. B. SS-Obersturmbannführer Kurt Lischka in Köln, der sich so sicher fühlte, dass er nicht einmal, wie viele andere, seinen Namen änderte.
Der Personenkreis, der nach Art. 131 ein Recht auf Wiedereinstellung und/oder Entschädigung hatte, belief sich auf fast eine halbe Million, darunter 55 000 »Entnazifizierungsfälle«. Die Restauration der NS-Funktionseliten verlief flächendeckend, schloss selbst leitende Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamtes, der mörderischen Einsatzgruppen, der Geheimen Feldpolizei oder der Gestapo-Leitstellen ein und erreichte bald mit Globke auch die Ebene der Staatssekretäre. Die fast vollständige Kontinuität bei der Richterschaft führte dazu, dass niemals ein ehemaliger Nazirichter angeklagt wurde und es zunächst kaum eine justizielle Verfolgung von Nazi- und Kriegsverbrechen gab. Die Entlarvung schwerstbelasteter Täter in Amt und Würden durch das »Braunbuch« der DDR wurde diffamiert und ignoriert. Davon profitierte auch SS-Obergruppenführer Werner Best (Reichssicherheitshauptamt, Einsatzgruppenorganisator, zeitweise Stellvertreter von Heydrich), der in der FDP zu Ansehen und Einfluss gelangte, als Inspirator für Amnestie und als Publizist im Sinne von Schuldabwehr öffentlich wirkte. Schuldbeladene Tätern waren auch die beiden, ihre Vergangenheit mit Erfolg verschleiernden Vorsitzenden des Historikerverbandes, Theodor Schieder und Werner Conze, mit ihren einstigen Aktivitäten im Kontext der »Germanisierung« und »Entjudung« Ostpolens.
Das neue Feindbild
Der »Wiederaufbau« des Auswärtigen Amtes (AA) bildete ein Paradebeispiel für das umfassende Fortwirken »Ehemaliger«. Selbst verurteilte Kriegsverbrecher wie Franz Nüßlein fanden wieder rehabilitierende Verwendung. Nicht berücksichtigt wurden dagegen diejenigen, die mit den Nürnberger Anklagebehörden und im Kriege mit dem »Feind« zusammengearbeitet hatten. Es gelang den keineswegs reuigen oder einsichtigen AA-Eliten ihr falsches vergangenheitspolitisches Renommee und ihr Lügengebäude jahrzehntelang aufrechtzuerhalten und zu verbreiten. Das 2010 abgeschlossene Aufarbeitungsprojekt bewies oder besser bekräftigte, dass das AA fester Bestandteil des NS-Herrschaftssystems war und dass man es sogar als »verbrecherische Organisation« bewerten könnte. Die Rehabilitierung der NS-Funktionseliten erstreckte sich bei der Wiederbewaffnung auch auf die Traditionen der »ehrenhaften Wehrmacht«. Diese Legende hielt sich bis zur Wehrmachtsausstellung in den 90er Jahren.
Mit dem Delikt der Staatsgefährdung fand NS-»Rechtsgut« seinen Niederschlag im ersten Strafrechtsänderungsgesetz und wurde in mehr als 8000 politischen Strafverfahren angewandt - gegen jene, die sich gegen die Remilitarisierung wandten oder für einen Friedensvertrag eintraten. Respektierung der DDR und Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze galten als Landesverrat. Die »Aussöhnung« nach Westen verband sich mit Feindschaft gen Osten, die insbesondere durch die staatlich geförderten Vertriebenenverbände geschürt wurde.
Auf Initiative des kritischen Juristen Fritz Bauer kam 1963 endlich der Auschwitz-Prozess zustande - allerdings unter Zugrundelegung des Strafgesetzbuches, das aber, wie es in der Urteilsbegründung hieß, »den Tatbestand des Massenverbrechens nicht kennt«. Wodurch sich ergab, »dass Tötungen, die sich im Einklang befanden mit den gegebenen Befehlen, rechtswidrig, aber nicht verfolgbar waren.« Bei solchem Herangehen auch in den folgenden Prozessen kam es zur Entlastung ganzer Tätergruppen und zur drastischen Minderung der Strafen, selbst bei überführten Mördern. »Die rechtliche Aufarbeitung von Hitlers Verbrechen ist überwiegend gescheitert und folgte sogar der Logik des NS-Rechts«, konstatiert Joachim Perels.
Die Verdrängung der »Nürnberger Prinzipien« und die Restauration der NS-Funktionseliten führten zweifellos zu schweren Belastungen, Beeinträchtigungen und Schädigungen von Demokratie und Rechtsstaat. Doch das wird weithin verleugnet, bagatellisiert oder umgedeutet. Edgar Wolfrum, Lehrstuhlinhaber für Zeitgeschichte, schrieb: »Die beinahe vollständige soziale Reintegration der ehemals führenden Nationalsozialisten war moralisch fragwürdig, zum Teil skandalös, funktional gesehen erwies sie sich jedoch als sehr effektiv. Vermutlich konnte die Etablierung einer bürgerlichen Republik nur auf der Basis dieser ?zweiten Chance? für die NS-Eliten geschehen... Allerdings ist in der Forschung umstritten, ob nicht engere Grenzen hätten gezogen werden müssen.«
Andere sehen das kritischer, blenden aber ebenfalls die Alternativmöglichkeit aus, die mit dem alliierten Entnazifizierungskonzept, den Nürnberger Prinzipien und den antifaschistischen deutschen Nachkriegskonzepten in Richtung Elitenwechsel anvisiert worden war. Diese Möglichkeit fiel dem Kalten Krieg zum Opfer, aber einiges davon konnte in der SBZ/DDR dennoch realisiert werden.
Professor Rolf Badstübner, Jg. 1928, arbeitete von 1960 bis 1991 an der
Akademie der Wissenschaften in Berlin. Er forscht und publiziert vor
allem über Nachkriegsdeutschland und Besatzungspolitik der Alliierten,
siehe u. a. »Vom ›Reich‹ zum doppelten Deutschland« (1999), »Clash.
Entscheidungsjahr 1947« (2007).
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