Ausnahmezustand im Ausnahmezustand

Das Hebbel am Ufer präsentiert frühe Stücke der visionären Choreographin Anna Teresa de Keersmaeker

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 3 Min.
Szene aus »Rosas danst Rosas«
Szene aus »Rosas danst Rosas«

Anna Teresa de Keersmaeker hat den zeitgenössischen Tanz revolutioniert. Jetzt ist die Belgierin, die man ihrer Bedeutung wegen gern als Nachfolgerin Pina Bauschs bezeichnet, mit vier ihrer frühen Stücke aus den 1980er Jahren zu einem Minifestival ins Hebbel-Theater gekommen. Der Besuch lohnt sich, denn man kann einen Teil des Fundaments besichtigen, auf dem die aktuelle zeitgenössische Tanzszene aufbaut. Und man kann den Ausnahmezustand eines Ausnahmezustands erleben. Denn eigentlich ist Tanz flüchtig. Einmal eine Bewegung in den Raum gewischt, und schon ist sie weg. Erinnerbar noch als eine Spur für die, die zugegen waren; nicht existent für die, die nicht zur exakt gleichen Zeit am selben Ort waren.

Dieser unbeständige Charakter des Tanzes führt bei den Beteiligten zuweilen zu existenziellem Stolz, ganz so, als werte das Verschwinden das Ereignis erst auf. Größer jedoch ist meist der bedauernde Gestus, mit dem die Flüchtigkeit der durch Musik gebundenen oder zumindest intendierten Bewegung im Raum benannt wird. Denn was weg ist, kann nicht betrachtet, verglichen, analysiert, tradiert und musealisiert werden. Nur großen Ensembles gelingt dies zuweilen. Ensembles, die von Künstlern geführt werden, deren Bewegungen sich zu Markenzeichen kristallisiert haben, und die so die Zeit überdauern.

Anna Teresa de Keersmaeker ist solch eine Künstlerin. Die flämische Choreographin, ausgebildet in Brüssel und in New York, sorgte gleich mit ihrem ersten Stück nach ihrer Rückkehr aus den USA für Furore. »Fase«, ein Duett nach der Musik von Steve Reich, greift auf so verblüffend einfache Art und Weise den geometrischen Charakter dieser minimalistischen Klangfolgen auf, dass man denkt: Ja, genau so muss man das machen. Zwei Tänzerinnen, die sich drehen, Arm und Körper schwingen, werfen etwas mehr als lebensgroße Schatten auf eine Projektionswand. Dort, wo die Scheinwerfer die Schatten beider Frauen übereinander legen und sie verdichten, entstehen für kurze Momente Konstellationen künstlicher Körper. In den 1980er Jahren wurde das Stück als Skandal gewertet. Das Publikum habe empört den Saal verlassen, übermittelt die Tanzgeschichtsschreibung. Jetzt sieht man darin einen Klassiker, der heutiger wirkt als all die Bilder, die zur Erinnerung an den Mauerfall - sieben Jahre nach der Uraufführung dieses Stücks - über die TV- Bildschirme schwappen.

»Fase« markierte am Montag den Auftakt der Keersmaeker-Werkschau. »Rosas danst Rosas«, das erste, 1983 entstandene Ensemblewerk und zugleich ein Schlüsselwerk des zeitgenössischen Tanzes, folgt am Mittwoch. Hier lässt sich die Verwandlung alltäglicher, unwillkürlicher Bewegungen wie das Erschlaffen des Körpers bei Müdigkeit und das Aufschnellen beim plötzlichen Erwachen in eine Kunstform höchster Intensität beobachten. De Keersmaeker stellte hier erstmals ihr präzises und mit Rasanz artikuliertes Bewegungsvokabular vor und operierte wie auch bei »Fases« exzessiv mit dem Mittel der Wiederholung. »Elenas Aria« (7.10.) geht einen anderen Weg. Zu Musik von Mozart, Bizet und Donizetti erproben fünf Tänzerinnen hier emotionale Ausbrüche. Im Gegensatz zu »Fases« und »Rosas« wird diese Produktion seltener wieder aufgenommen. Den Abschluss macht am 9.10. »Mikrokosmos«, eine 1987 entstandene dreiteilige Choreographie zu Kompositionen von Bartok, in der erstmals zwei männliche Tänzer von de Keersmaeker engagiert wurden.

Das Mini-Festival der belgischen Choreographin schafft es tatsächlich, längst Vergangenes noch einmal in die Gegenwart zu holen. Das Flüchtige wird durch Wiederholung stabilisiert. Der Faktor Zeit - der verflossenen Zeit -wird dennoch nicht negiert, wenn de Keersmaeker auch ihren eigenen Körper in den 20 bis 30 Jahre alten Stücken bewegt.

3.-9.10., Hebbel am Ufer

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