Schillerkiez im Wandel
In Berlin-Neukölln entsteht ein neues Szeneviertel
Die Gäste drehen sich aufgeregt um. Was hat der Fahrradfahrer gerade gerufen? »Stell deine Schuhe woanders hin, du Drecksstück!« Der Radfahrer ist auf dem Bürgersteig zwischen Holztischen und Sommerstühlen durchgerast, die Schuhe eines Gastes waren dabei offenbar im Weg. »Der wird seine Miete bald auch nicht mehr bezahlen können«, sagt Robert scherzhaft und zwinkert mit den Augen. Erst im Januar hat er seine Szene-Bar Heisenberg an einer Ecke der Schillerpromenade eröffnet. Nicht alle Anwohner scheinen von der Neueröffnung begeistert zu sein. Er war noch mit den Renovierungsarbeiten beschäftigt, da hatte er bereits das erste Graffiti an der Wand: »They say gentrify, we say occupy.« – Ihr sagt gentrifiziert, wir sagen besetzt.
Der Schillerkiez in Berlin-Neukölln befindet sich im Wandel. Immer mehr Studierende, Künstler und junge Berufstätige ziehen in die attraktive Gegend direkt am ehemaligen Flughafen Tempelhof, auf dessen Gelände nun ein Park entstanden ist. Im Wochentakt eröffnen in den umliegenden Straßen Plattenläden, neue Cafés, Bars und Kunstgalerien. Die Mieten steigen schnell. Vor wenigen Jahren noch als Hartz-IV-Problemkiez voll Gewalt und Armut verschrien, wird der Schillerkiez jetzt hipp.
Abdul, der im Schillerkiez aufgewachsen ist und seit 33 Jahren hier lebt, hat nichts gegen den Wandel. »Ein bisschen neue Gesichter«, sagt er, und streicht sich bedächtig über sein rotes Rockerkopftuch. Seine gebräunten Arme überziehen zwei schwarze Tattoos, ein Tribal und ein Drache. Mit den Gästen sitzt er vor seiner Eckkneipe, Bierbaum 3. Gläser mit Fassbrause und Bier stehen auf dem Tisch. »Endlich mal was Gemischtes«, sagt Abdul. Damit meint er die »Körnerfresser«, die gegenüber vor der »Studentenkneipe« Heisenberg sitzen. Das ist nicht abwertend gemeint. Abdul freut sich darüber, dass der Kiez multikultureller wird.
20 Prozent mehr Miete
Früher wurde im Kiez vor allem Deutsch, Türkisch und Arabisch gesprochen. Jetzt hört man auch Englisch, Französisch und Spanisch. Nur die steigenden Wohnungsmieten sorgen für Ärger. Zwar musste von den Stammgästen noch niemand wegziehen, aber die Mietsteigerungen betragen bis zu 20 Prozent. Wies der Mietspiegel 2009 für eine einfache Wohnung im Schillerkiez noch eine Durchschnittsmiete von 4,70 Euro pro Quadratmeter aus, liegt diese nun bei 5,75. Auch Abdul ist betroffen, seine Ladenmiete soll demnächst erhöht werden. Zwar steht noch nicht fest, wie viel die Mehrkosten betragen werden, aber zwangsläufig wird sich das auch in den Getränkepreisen niederschlagen. Erst kürzlich musste er aufgrund steigender Verbraucherpreise alle Getränke zehn Cent teurer machen. Ein kleines Bier bekommt man im Bierbaum3 jetzt für 1,70. »Natürlich macht mir das Sorgen«, sagt Abdul. Schließlich hätten auch schon viele Kneipen im Kiez schließen müssen.
»Ich bin nicht Starbucks, Mann!« sagt Robert mit Nachdruck und lehnt sich vor. Er sitzt auf einem Stuhl vor seiner Bar, in grauem Kapuzenpullover und Bluejeans. Sein Zeigefinger deutet auf das Graffiti, das an der Außenwand seines Ladens prangt. Von seinen Kritikern, die er am Rand des linken Spektrums vermutet, habe sich keiner die Mühe gemacht, das Gespräch mit ihm zu suchen. »Kleingeister« seien die, die es nicht verständen mit der neuen Situation umzugehen. »So schlimm es ist, dass Hartz-IV-Bezieher hier keine Wohnungen mehr bekommen«, sagt Robert, »ich hab damit nichts zu tun.« Er versteht sich als Linker. Er ist gegen Leerstand-Spekulationen mit Häusern, um die Mieten hoch zu treiben Hinter der Verdrängung der sozial Schwachen ständen komplizierte gesellschaftliche Prozesse, bei denen selbst die Globalisierung eine Rolle spiele. Er hebt eine Hand, um seinen Worten zusätzliches Gewicht zu verschaffen. Der Wandel des Schillerkiezes lasse sich nicht verhindern. »Das ist Evolution. Wer sich nicht anpasst, stirbt aus, Mann«, sagt Robert und begrüßt dann zwei Gäste, die vor seinem Tisch stehen geblieben sind.
Ein Paar um die dreißig. Sie trägt ein französisches Barett, einen dunklen Schal mit vielen kleinen weißen Peace-Zeichen, und eine Brille mit runden Gläsern. Er steht da mit einer grau-schwarzen Jackettjacke und hält an der Hundeleine einen verspielten Welpen. Man unterhält sich, dann setzen sie sich an einen freien Tisch in der Sonne. »Theaterschauspieler«, sagt Robert. Jeden ersten und dritten Montag im Monat halten sie im Heisenberg ihre gut besuchte Lesung Primavista. Sie lesen, was das Publikum mitbringt. Willkommen ist alles: der Fremdwörterduden genauso wie Fachbücher über Elektromechanik.
Wirte als Pioniere
Robert kam vor fünf Jahren in den Schillerkiez. In Baden-Württemberg hat er Koch gelernt. 20 Jahre arbeitete er in verschiedenen deutschen Gastronomien. Schließlich wollte er seine eigene Bar. Damit verbindet er auch einen kulturellen Anspruch. Alle zwei Monate wechseln die Bilder, der ausgestellten jungen Künstler. Bands, die sich vorher bei ihm bewerben, können im Laden auftreten. »Wir Gastronomen leisten Pionierarbeit«, sagt Robert. In ihrer Hand liege es, wie sich der Kiez entwickle. »Vor fünf Jahren ist der letzte Rest Zivilisation spätestens am U-Bahnhof Hermannplatz ausgestiegen«, sagt Robert. Auf der Hermannstraße habe er von seiner Wohnung aus auch schon mal Männer mit Schnellfeuerwaffen gesehen. Er erzählt vom Raubmord in einer Neuköllner Spielhalle und anderen Gewalttaten. So etwas komme heute kaum noch vor. Für den Schillerkiez prognostiziert Robert, dass aufgrund steigender Mieten in den nächsten Jahren noch mehr alte Anwohner wegziehen werden. Reichere Zuzügler würden kommen. Schließlich würden am Tempelhofer Park die angekündigten Wohnungen mit Dachterrassen gebaut. »Das wird ein gepflegter Kiez«, schließt Robert seinen Ausblick. Ein Schrei aus dem Inneren des Bierbaum3. Der letzte Spieltag der Zweiten Fußball-Bundesliga. Paderborn hat ein Tor für die Statistik geschossen. Ein Gast steht in der Türschwelle und verkündet den draußen am Tisch sitzenden Männern und Frauen: »Schnapsrunde!« Die Reaktionen bleiben verhalten, es ist wohl noch zu früh am Mittag. Nur einer der Gäste lässt sich den kostenlosen Schnaps nicht entgehen.
Gangs in den 70ern
Vor zwei Jahren übernahm Abdul die Eckkneipe von seinem vormaligen Chef. Davor hat er als Autohändler oder Türsteher gearbeitet. Natürlich gab es früher im Schillerkiez auch Gewalt, sagt Abdul. Die schweren Zeiten lägen aber schon weit zurück. In den Jahren zwischen 1975 und 1977 habe es ein Gangproblem gegeben. Massenschlägereien. Sein Freund Marco erklärt, der Wandel habe sich nun durch die Schließung des Flughafens Tempelhof vor einem Jahr beschleunigt. Seitdem der Park aufgemacht habe, sei die Gegend gefragt wie nie, sagt Marco, der bei der Neuköllner Wohnungsgenossenschaft arbeitet. Fast ausschließlich würden sich nun Deutsche bei der Genossenschaft um Wohnungen bewerben. Besonders bei Studenten sei die Gegend aufgrund der guten Verkehrsanbindungen beliebt. Leerstand gebe es keinen mehr.
Am Abend ist im Heisenberg Vernissage. Ein junger spanischer Künstler stellt aus. Bei Wein und Bier steht eine Gruppe von Gästen am Eingang und diskutiert ein großformatiges Bild. Die Männer tragen Karohemden, die Frauen sind in Absatzschuhen und Kleid gekommen. Im Hintergrund pocht Trance-Musik. Gemütlich ist es hier. In den Ecken der Räume stehen Palmen, die Gäste sitzen auf Couchs und Sesseln vom Flohmarkt. Der Laden läuft gut. Vor dem Tresen stehen die Leute Schlange. Drüben im Bierbaum3 sitzen fünf Männer in schwarzen Jacken am Tresen. Die meisten haben graues Haar. Die breiten Hände liegen am Bierglas. Ab und an fängt einer eine Unterhaltung mit der Barfrau an, eine Blondine Mitte zwanzig mit großen goldenen Ohrringen. Vom flimmernden Spielautomaten ruft ihr ein Gast zu: »Petra, machst du mir noch eins?« »Klar, Charlie!« Etwas Stimmung kommt auf, als eine stämmige Frau Geld in die Jukebox schmeißt. Aus den Boxen wummert in ohrenbetäubender Lautstärke der 80er Hit »Tell it to my heart«. Im hinteren Zimmer sitzt Abdul mit Freunden im Neonlicht. Sie spielen Bingo. Die Zahlen werden über die Lautsprecher bekannt gegeben.
Abdul hängt an dem Laden, er hat im Bierbaum3 alles selbst eingerichtet. Ob er nicht Angst habe, durch die Mietsteigerungen und den Zuzug seinen Laden irgendwann schließen zu müssen? Abdul winkt ab. »Die kommen und gehen«, sagt er.
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