»Wir glauben an Lebertran«
Autorin Steinunn Sigurdardóttir über Spielzeuge der Isländer, Wortspiele, lästige Nachrufe
ND: Auf Frankfurts Buchmesse wird viel über Island geredet. Das Bild ist einfach: im Vordergrund wilde Landschaft, im Hintergrund Finanzkrise, zwischendrin ein paar Elfen. Was würden Sie dem Bild hinzufügen?
Sigurdardóttir: Es wird immer von unberührter Natur gesprochen. Irrtum! In Island gibt es schlimme Umweltzerstörung. Etwa durch Wasserkraftwerke, die billigen Strom erzeugen für US-Aluminiumwerke, die sich in unseren schönen Fjorden ansiedeln. Vor einiger Zeit wurde ein riesiger Staudamm gebaut, der über 100 Wasserfälle zerstörte. Sinn für Umweltschutz ist in Island unterentwickelt, die Leute wehren sich kaum. Es gibt wenig Debattenkultur.
Aber über Bücher können sich Isländer lebhaft streiten?
Ja. Wir haben einen knallharten Leserkreis. Es gibt sogar Leute, die bei mir anrufen, um sich über das Verhalten meiner Romanfiguren aufzuregen, als würde es sie wirklich geben.
Woher kommt diese Liebe zur Literatur?
Das ist unsere alte Sitte. Es ist tief in unserer Seele. Wir waren eine der ärmsten Nationen Europas. Das Leben war unvorstellbar schwer, die Leute hatten nichts. Die Worte waren ihre Spielzeuge. Es wurde viel gereimt, Isländer lieben Wortspiele und Poesie. Auf dem Bauernhof meines Vaters machte man jeden Tag einen Vierzeiler über lustige kleine Begebenheiten, zum Beispiel über das Benehmen eines Lamms. Und eine Bekannte erzählte mir die Geschichte von Les Miserables, während sie am Herd Rhabarbermarmelade kochte.
Wie präsent sind Bücher im heutigen Alltag?
In Reykjavik sind einige Buchläden bis 22 Uhr offen. Sie sind mit Cafés ausgestattet, und wenn man abends weggehen will, trifft man sich oft im Buchladen und auf Lesungen. Zur Weihnachtszeit verkaufen selbst Tankstellen gute Literatur. Die Menschen lesen viel, weil es sonst nichts anderes zu tun gibt. Ich habe schon mit zehn Jahren Pasternaks »Doktor Schiwago« gelesen, einfach, weil Reykjavik so langweilig war.
Als sie mit 19 Jahren ihr erstes Buch, einen Gedichtband, veröffentlichten, gab es in Island kaum Schriftstellerinnen. Wieso?
Ein Mysterium, ich verstehe es selbst nicht. Aber bis 1969 waren isländische Schriftstellerinnen unsichtbar. Schreiben war eine männliche Tätigkeit. Vor mir gab es nur zwei oder drei respektierte Autorinnen. Man muss bedenken, dass isländische Schriftsteller, bis Halldór Laxness kam, generell unbekannt waren. Zwischen der Saga-Literatur und den 1920er Jahren haben wir eine große Lücke in unserer Prosaliteratur.
In ihrem aktuellen Roman »Der gute Liebhaber« besucht der Protagonist Karl nach langer Zeit seine Heimat Island. Als er sie wieder verlässt, nimmt er Lebertran mit, denn es ist das einzige isländische Produkt, ohne das er nicht leben kann. Auf welches Stück Island können Sie nicht verzichten?
Lebertran! Er ist so eine Art Nationalgetränk. Wir glauben an Lebertran. Er ist das Erste, was wir morgens einnehmen. Das ist logisch, denn wir haben im Winter wenig Licht und brauchen Vitamine. Aber mir fehlt auch der isländische Sommer. Gutes Wetter ist in Island gut wie nirgends auf der Welt. Bei Sonnenschein machen sogar die Geschäfte zu, sie hängen Schilder raus: »Geschlossen wegen des Wetters.«
Karl wundert sich im Buch darüber, wie Isländer sprachlich mit dem Tod umgehen ...
Die Leute glauben an Kontakt mit den Toten, etwa durch Séancen. Außerdem ist der Nachruf ein wichtiges Genre, über das ich schon ein böses Buch verfasste. Es gibt schreckliche Nachrufe, weil viele Leute nicht schreiben können. In Island werden Nachrufe von Freunden, Familienangehörigen verfasst - je mehr, desto besser. Wenn über einen Toten zwei Zeitungsseiten gefüllt werden, heißt es, er war ein guter Mensch. Doch die Leute unterscheiden nicht zwischen öffentlich und privat, so dass auch unangebrachte Details einfließen. Etwa wenn sich eine 16-Jährige über die Pfannkuchen ihres Großvaters auslässt.
Wo wir gerade bei ungewöhnlichen Traditionen sind: Stimmt es, dass zu Weihnachten fermentierter Rochen gereicht wird?
Ja, am 23. Dezembert wird Rochen gegessen. Stinkt ein wenig, ist aber üblich.
2009 gründeten Künstler und Kreative die »Beste Partei«, als Realsatire auf die Politik. Jetzt stellt sie den Bürgermeister von Reykjavik. Ist Galgenhumor die Art, wie Isländer mit Krisen umgehen?
Wie viel Humor hat eine Mutter, die nicht genug zu Essen für die Kinder hat? Ich glaube, die »Beste Partei« wurde gewählt, weil die Leute todmüde waren von Politikern. Eindeutig eine Protestwahl.
Können Künstler mit einem anderen Blick auf die Politik etwas verändern?
Das kann man nur hoffen.
Interview: Jenny Becker
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