Rio Reiser und Bob Dylan

Im Wintergarten bleiben Rockmusik und Artistik »Forever Young«

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 4 Min.
»I love Rock'n'Roll«, inszeniert mit Diabolo
»I love Rock'n'Roll«, inszeniert mit Diabolo

Wieder ist der Crew vom Wintergarten ein Coup gelungen. Dafür musste Ideengeber und Regisseur Frank Müller nicht in die Ferne schweifen, brauchte »nur« in der Historie des 1913 als Kino eingeweihten Hauses zu kramen. Denn von 1970-1989 schrieb die kriegsunzerstörte Location als Quartier Latin Rockgeschichte. Die Band Kraan spielte hier ein erfolgreiches Live-Album ein, Nina Hagen und Ina Deter gaben karrierewirksame Konzerte. Was lag näher, als dem Metier Varieté nochmals eine weitere Kunst zu verschwistern: diesmal Rockmusik. »Forever Young« erinnert an immergrüne Klassiker und ordnet ihnen artistische Beiträge zu.

Wiederum entsteht etwas Eigenes, das es nur im Wintergarten zu sehen gibt. Das stärkt, nach der fabulösen Show mit Meret Becker, dem forschen Mix »Made in Berlin«, der skurrilen »Tiger Lillies Freakshow« als differenten Angeboten hoher Qualität, die Position des Unternehmens im Berliner Varieté-Alltag, schärft sein Profil. Nun also Barden des Rock-Olymp und Stars der internationalen Unterhaltungsbranche als Komplizen in gemeinsamer Sache.

Bob Dylans »Kockin? on Heaven?s Door« weht, noch ehe sich der Vorhang öffnet, unverstärkt leise von der Bühne herunter: Drei Musiker der Weitersagen-Band singen und spielen sich warm und uns ins wehmütig erinnernde Herz. Dann wandern die Konterfeis der Rockrebellen über eine LED-Leinwand, Jimi Hendrix, Janis Joplin, Jim Morrison und viele andere. Unter einer Alubrücke hervor lässt sie die sechsköpfige Band in exzellentem Sound lebendig werden. Mit kurzen Einlagen sind die neun Darbietungen der zwölf Artisten verbunden, stehen indes jede als ihr eigenes Universum. Mit Kreissäge, Fliege sowie riskanten Stürzen und akrobatischen Umhebungen sorgen die Novruzov Brothers für Spaß und Staunen. Worum es an diesem Abend zumindest auch geht, darf dann gleich die Band beweisen: Den Dauerstreit um die Krone der Innovation zwischen Beatles und Rolling Stones befeuert sie mit einem Medley, in das zu »Back in the USSR« elegant und perfekt Tatiana Konobas eingreift. Mit drei lichtblauen Luftkugeln, um und über sie tanzt sie in knappen Jeansshorts derart leichthin, dass es den zähen Fleiß für diese Kombination aus Akrobatik, Antipodistik und Balance fast vergessen macht. Ein fingierter Kurzschluss mit Sprühfunken leitet zu Wishful Thinkings Onehit-Wunder »Hiroshima« über, das den beiden HipHoppern von FanatiX nach geheimpolizeilichen Ermittlungen Gelegenheit zu virtuosem Miteinander gibt.

Auch Elisabeth Williams? Akt am Vertikaltuch erhält wenigstens einen sozialkritischen Akzent. Lässt Led Zeppelins »Stairway to Heaven« sie zunächst im knappen Golddress fliegen und hängen, so erweist sich die Himmelssteige als Gefängnistreppe, wenn die Artistin, dann in Schwarz, das Tuch mit Eisenketten vertauscht, in denen sie schließlich ihr Leben verzittert. Phil Os hellt die Stimmung auf, erst als Schlagzeuger, dann in einer rockig rasanten, künstlerisch frappanten Diabolo-Show mit bis zu drei Requisiten, die, abenteuerlich verwickelt, in der Luft stehen, aus dem Wurf eingefangen, einhändig geschleudert werden. »I love Rock?n?Roll« singt er danach mit. Dass Mr. Energiebombe auch über komödiantische Fähigkeiten verfügt, darf er in einem Pinkel-Sketch vor der Pause zeigen. Die beschließt eine Polit-Reminiszenz. Zu Pink Floyds »Another Brick in the Wall« wird ein Wall aus Styroporsteinen spielerisch abgetragen, von dem nur Graffiti bleiben. Dann schlägt die Stunde für »Major Tom« und David Bowie, immerhin zwei Jahre Wahlberliner. Mikhail Stepanov unterm Leuchthelm verkörpert den Roboter als Könner an den Strapaten, im freihändigen Spagat, mit Salti, Drehwirbeln. Dass die Band das Kapitel Deutsch-Rock wörtlich nimmt, zwischen Klaus Lages »Tausend mal berührt«, Deters »Neue Männer braucht das Land«, Rio Reisers »König von Deutschland« Hits der Puhdys und von Karat flicht, ist nur fair.

Bravouröses im letzten Drittel. Nach jugendfrischer Jonglage von Fernando & Serafina zu Klängen von Nirvana und Police ist Queens »Bicycle Race« Folie für Frank Wolfs so verwegenen wie brillanten Breakdance auf und mit dem BMX-Rad: Sprung über einen Liegenden, rasende Pirouetten, Stand-Touren. Metallicas balladeskes »Nothing Else Matters« begleitet Handstandartistik von Alexander Veligosha bei kraftstrotzender Equilibristik mit Körperauslenkung auf hohem Gestell: frei der Oberkörper, das Trikot umfesselt, das Gesicht diabolisch geschminkt. »Forever Young«, Dylans titelspendender Song, steht am Ende; mit welchem Finale die Show indes überrascht, bleibe denen vorbehalten, die sie besuchen.

Wintergarten, Potsdamer Str. 96, Charlottenburg, Kartentelefon: 030 58 84 33, Infos unter www.wintergarten-berlin.de

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