»Bedenkliche« Sicherheitslage in Libyen
Rivalitäten und gegenseitiges Misstrauen unter den Gaddafi-Gegnern
Anfang Oktober kam es in der libyschen Provinz Nalut an der Grenze zu Tunesien und Algerien zu einem heftigen Schusswechsel zwischen Angehörigen der dort lebenden Berber und Milizen des Al-Seaan-Stammes. Drei Menschen, die versehentlich ins Kreuzfeuer geraten waren, bezahlten das mit ihrem Leben, berichtete der US-Fernsehsender CNN. Die Kontrahenten hatten bisher Seite an Seite gegen Muammar al-Gaddafi und seine Anhänger gekämpft. Die Berber aus Nalut hatten sich im April über »Radio Freies Nalut« zu Wort gemeldet und damit kräftig ins Feuer des Aufstands im Westen Libyens geblasen.
Doch seit die Gaddafi-Gegner die Hauptstadt Tripolis eingenommen haben, macht sich Misstrauen unter den ehemaligen Kampfgefährten breit. Die Berber aus Nalut kontrollieren den Stadtteil Kremia, wo sie mit anderen Kampfgruppen aneinandergeraten. Sie durchsuchten die Häuser und plünderten, heißt es von Anwohnern. Als die Seaan-Kämpfer vor wenigen Tagen erneut die Berber aus Nalut in Tripolis angriffen, schaltete sich ein Vermittler des Nationalen Übergangsrates ein. Man verhandelte über Waffenstillstand und Gefangenenaustausch, der Vertreter des Übergangsrates warnte vor einem Stammeskrieg.
Die Berber machen rund 10 Prozent der libyschen Bevölkerung aus. Sie sind Muslime, aber nicht solche arabischen Ursprungs, und verstehen sich als die ursprünglichen Bewohner Nordafrikas. Einer der bekanntesten Stämme unter den Berbern sind die Tuareg.
Abdul Rahmad Busin, ein Sprecher des Nationalen Übergangsrates in Tripolis, versuchte die Auseinandersetzungen zwischen den beiden Stämmen herunterzuspielen. Es habe sich lediglich um einen »isolierten Vorgang« gehandelt, »alte Feindschaften« seien auf der Straße ausgetragen worden. Der Sicherheitsrat des Übergangsrates arbeite »intensiv, um alle Brigaden zu vereinigen«, versicherte Busin.
Das aber dürfte schwer werden bei 140 Stämmen, deren größte sich in den vergangenen 42 Jahren mit Gaddafi arrangiert hatten. Der ehemalige Staatschef betrieb eine ausgefeilte Politik des »Teile und herrsche«, indem er die einen Stämme mit sozialen, politischen und finanziellen Privilegien, mit Wohnungen, Arbeit und Geld an sich band, andere dagegen isolierte. Oft ging der Riss aber auch mitten durch die Stammesstrukturen, wie Hans Peter Mattes weiß. Der Hamburger Libyenkenner hält es für gut möglich, dass Auseinandersetzungen um Einfluss und Privilegien den Übergangsrat isolieren und Libyen in einen unübersichtlichen Stammeskrieg stürzen könnten. Kampfgruppen haben sich in verschiedenen Vierteln der Hauptstadt Tripolis festgesetzt, um zu zeigen, dass sie nicht ohne Weiteres bereit sind, ihre mit Waffen eroberte Macht abzugeben.
Andere Stimmen halten die Stammesstrukturen für unerheblich. Libyen sei eine »städtische Gesellschaft; für die jungen Leute spielt das ganze Gerede von Stämmen keine Rolle«, sagte der libysche Politikwissenschaftler Mansur El-Kikhia im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Reuters.
Der Übergangsrat hat derweil Mühe, seine Anerkennung auf internationaler Bühne in politische Autorität im Lande umzumünzen. Etliche aus der neuen Führungsriege haben lange mit Gaddafi zusammengearbeitet, was ihnen den Vorwurf einbringt, sich aus Opportunismus von ihrem ehemaligen Gönner abgewandt zu haben, um jetzt persönlich zu profitieren. Manche halten das für den eigentlichen Streitpunkt. Unabhängig von Stammesstrukturen stünden sich die einst Ausgegrenzten - Arbeitslose, Minderheiten, Jugendliche - auf der einen Seite und die von Gaddafi Begünstigten - gebildet und wohlhabend - auf der anderen Seite gegenüber.
Prominentestes Ziel solcher Anschuldigungen ist der Ministerpräsident des Nationalen Übergangsrates, Mahmud Dschibril, der unter Gaddafi den Rat für Wirtschaftsentwicklung leitete. In der nationalen Ölgesellschaft kam es Anfang Oktober zu einem Streik der Arbeiter gegen das neue, alte Management, auch in der Handelskammer und anderen Institutionen stehen sich die »alte Garde« und die »neue Garde« feindselig gegenüber, wie Reporter berichten.
Innerhalb der NATO gibt es jedoch bereits Planungen für den Fall, dass Libyen nicht stabilisiert werden kann. Die Stammesstrukturen seien außerordentlich stark, sagte ein namentlich nicht genannter Sicherheitsexperte des westlichen Bündnisses schon Ende August der britischen Tageszeitung »Daily Mirror«. Es handle sich um »Blutsbande, die Jahrhunderte alt und den Menschen geradezu eingebrannt« seien. Die britischen Streitkräfte, die sowohl an den NATO-Luftangriffen als auch an der Unterstützung der Rebellen am Boden führend beteiligt waren, könnten Fallschirmjäger oder Marinesoldaten einsetzen, um Stammesfehden zu stoppen, hieß es im »Daily Mirror« weiter. Solange diese Truppen jedoch noch im Afghanistankrieg gebunden seien, könnte die Aufstandsbekämpfungspolizei verschiedener NATO-Staaten mit speziellem Rüstzeug an der »Front in Libyen« eingesetzt werden.
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