»Das System gefällt uns nicht«

Zehntausende Ungarn demonstrierten in Budapest gegen die Regierungspolitik

  • Gábor Kerényi, Budapest
  • Lesedauer: 4 Min.
Mindestens 50 000 bis 60 000 Menschen versammelten sich am Sonntag in Budapest zu einer Großdemonstration gegen die Politik der rechtsnationalen Regierung unter Viktor Orbán.

Mit Bedacht war der 23. Oktober, der 55. Jahrestag des Aufstands von 1956, für die Massenkundgebung gewählt worden. Als Hauptorganisator trat eine Facebook-Gruppe unter dem Namen »Eine Million für die ungarische Pressefreiheit« (EMS) auf. Die Demonstration in der Budapester Innenstadt stand unter dem Motto »Das System gefällt uns nicht«. Das ist unter anderem eine Anspielung auf frühe Zeiten des Staatssozialismus, als verhörende Offiziere während politisch motivierter Vernehmungen oft früher oder später die Frage stellten: »Gefällt Ihnen das System nicht?«

Die Organisatoren meinen, die Schrecklichkeiten, die Viktor Orbán und sein Bund Junger Demokraten (Fidesz) bislang angerichtet haben, seien insbesondere auf das Fehlen einer echten Zivilgesellschaft zurückzuführen. Diese zu stärken war eines der Motive für die Aktion am Staatsfeiertag. Bekannte Schauspieler übernahmen die Rollen der Kundgebungsmoderatoren und teilten mit, dass auch ihnen vieles am heutigen System nicht gefällt. Erwähnt wurden unter anderem die Versuche, die gesellschaftliche Mobilität zu unterdrücken, außerdem die Zentralisierung des Schulwesens, der wirtschaftliche Amoklauf, die Unterdrückung jedes möglichen Beitrags der gesellschaftlichen Interessenverbände, die Kriminalisierung der Obdachlosen und die Tatsache, dass die Politik der Regierung die Ärmsten der Gesellschaft bewusst im Stich lässt.

András Istvánffy, Koordinator der Organisation 4K! (Abkürzung für Vierte Republik), die im April dieses Jahres das neue ungarische Grundgesetz durch eine letztlich nicht genehmigte Volksabstimmung zu Fall bringen wollte, fasste die Lehren aus der Vergangenheit zusammen. Für ihn wie für viele Demonstranten kommt dem Widerstand gegen die von Fidesz im Alleingang beschlossene neue Verfassung, die am 1. Januar 2012 in Kraft tritt, zentrale Bedeutung zu. Der Abbau des Rechtsstaates habe vor einem Jahr begonnen, als der Verfassungsgerichtshof ein Gesetz für verfassungswidrig erklärte und Fidesz daraufhin, und zwar noch am selben Tag, die Verfassung einfach umschrieb.

Seither wurde ungezählte Male demonstriert: gegen das Mediengesetz - vergeblich, und der Großteil der Presseleute verkrieche sich heute hinter der Angst; gegen das neue Grundgesetz - vergeblich, jetzt stünden an allen Ecken rund um das Parlament Polizisten und Helikopter kreisten ständig über der Innenstadt; gegen das neue Arbeitsrecht - vergeblich, die ungarischen Arbeitnehmer seien heute noch ärmer und schutzloser ausgeliefert als früher.

Wie Istvánffy sagte, geht es nicht lediglich darum, dass die Regierung schlechte Gesetze durchdrückt, sondern darum, dass die Dritte Republik faktisch zerstört wird. Sogar das Wort Republik ist aus der offiziellen Bezeichnung des Staates Ungarn gestrichen worden. Das Orbán-System schaffe alles ab, was in dieser Dritten Republik noch erträglich oder gar gut war, und steigere das Schlechte bis zur Unerträglichkeit.

Es gebe, so Istvánffy, einen zentralen Grund dafür, warum die Regierung all dies so leicht habe in die Tat umsetzen können: Worauf man keine Anstrengung verwandt hat, darauf achte man auch nicht. Die Dritte Republik sei den Ungarn aufgrund internationaler Entwicklungen in den Schoß gefallen. Seit 1956 hätten sie nie richtig um ihre Freiheit kämpfen müssen. Jetzt aber befinde man sich in einer Situation, in der jede Hoffnung auf weltpolitische Entwicklungen, durch die den Ungarn eine neue Republik in den Schoß fallen könnte, illusorisch sei. Nun müssten sie selbst die Republik neu erkämpfen, und das sei gut so, denn nur so könne sie auf feste Grundlagen gestellt werden. Ungarn braucht eine Vierte Republik, die sich dauerhaft von unten organisiert, statt sich darin zu erschöpfen, dass man jedes vierte Jahr in der Wahlurne eine Partei ankreuzt. Unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen müssten sich endlich organisieren, die demokratischen oppositionellen Kräfte müssten sich zusammenschließen.

Péter Juhász, einer der Organisatoren der EMS, kündigte an, dass man in zwei Wochen mit den Wahlen eines alternativen ungarischen Staatspräsidenten beginnen werde. Das Ergebnis werde am 15. März 2012, dem Nationalfeiertag zur Erinnerung an die Revolution von 1848, bekannt gegeben und der alternative Präsident werde dann in sein Amt eingeführt.

Ein Aspekt der Ereignisse vom Sonntag fand in den Medien kaum Widerhall. Als Ministerpräsident Viktor Orbán erfahren hatte, dass am Staatsfeiertag eine regierungskritische Demonstration zu erwarten sei, setzte er zunächst provokativ eine Fidesz-Feier nur einige hundert Metern entfernt an. Überraschend wurde die Regierungskundgebung jedoch wieder abgesagt. Erstmals seit dem Systemwechsel vor über 20 Jahren organisierte Fidesz am Nationalfeiertags keine Veranstaltung in der Hauptstadt. Eine offizielle Begründung gab es nicht, verwiesen wurde lediglich auf das Krisentreffen der EU-Regierungschefs in Brüssel, an dem Orbán teilnehmen musste.

Doch diese Erklärung wirft mehrere Fragen auf: Ist Fidesz eine Einpersonenpartei? Existiert sie ohne Orbán nicht? Oder darf sie ohne ihn nicht existieren? Ist die Absage womöglich als Zeichen aufkeimender Ängste der allmächtigen Regierenden zu lesen? Hätte es vielleicht geschehen können, dass einige Schaulustige weiterspaziert und - nur wenige Schritte von der Fidesz-Feier entfernt - unvermutet auf die traurige Wahrheit gestoßen wären, dass die begeisterte »Revolutionsdreiviertelmehrheit« des Fidesz sichtbar geschmolzen ist?

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