Auf Dachböden und in Kellern

Notizen von einer Tagung in Berlin: Kultur und Identität – Das deutsch-jüdische Erbe

  • Hendrik Lasch, Ústí n.L.
  • Lesedauer: 4 Min.

Beim Bier löst sich die Zunge, und Kneipen sind Orte, an denen Geschichten erzählt werden. Es ist daher kein Zufall, dass im dritten Stock des frisch sanierten Stadtmuseums von Ústí nad Labem eine Schankwirtschaft eingerichtet wurde. Holzstühle stehen um gewienerte Tische, ein alter Tresen samt Zapfhahn wartet auf Kundschaft, ein Kleiderständer auf Mäntel. An der Wand hängt ein Plakat. Geworben wird für Pumpernickel - aus Elbogen.

Dass Elbogen ein nordböhmisches Städtchen war, weiß kaum ein Museumsbesucher - es sei denn, es handelt sich um einen älteren deutschen Gast. Ihm könnte Elbogen als malerischer Ausflugsort in Erinnerung sein, dessen Stadtkern von einer Schleife der Eger umflossen wurde. Heute heißt der Fluss Ohře, und die Stadt findet sich im Atlas als »Loket« - was die tschechische Übersetzung von »Ellbogen« ist. Die Einwohnerschaft von Loket ist tschechisch, anders als Mitte der 30er Jahre. Da war von 4000 Elbogern nur jeder 16. kein Deutscher.

Im Museum von Ústí soll künftig die Geschichte von Elbogen und vielen anderen böhmischen Orten erzählt werden, in denen Deutsche und Tschechen zusammen lebten, bevor es infolge des von Deutschland ausgegangenen mörderischen II. Weltkrieges 1945/46 zur Tragödie kam und 2,7 Millionen Deutsche aus dem Land ausgesiedelt wurden. Ende nächsten Jahres soll eine Dauerausstellung eröffnet werden, mit der erstmals in Tschechien die jahrhundertelange gemeinsame Vergangenheit in den Blick genommen wird, die im 13. Jahrhundert mit dem Zuzug deutscher Bauern und Bergleute in grenznahe Gebirgsgegenden begann. Derzeit sind in den Räumen neben der Gastwirtschaft die Wettbewerbsentwürfe für die neue Ausstellung zu sehen.

Entwickelt wird die Exposition vom »Collegium Bohemicum«, einer Ende 2006 gegründeten Institution, an der zunächst die Stadt Ústí, die dortige Jan-Evangelista-Purkyně-Universität und die Gesellschaft für die Geschichte der Deutschen in Böhmen beteiligt waren. Seit 2008 sei auch das Prager Kulturministerium per Regierungsbeschluss beteiligt, sagt Collegiums-Direktorin Blanka Mouralová. Das Collegium sei damit diejenige Einrichtung, die sich in der Tschechischen Republik offiziell um Bewahrung und Aufarbeitung des deutschen Kulturerbes kümmert - oder um die Geschichte der »deutschsprachigen Bevölkerung in den böhmischen Ländern«, wie man in Ústí formuliert.

Eine einfache Aufgabe ist das nicht; schließlich sei die gemeinsame Vergangenheit bis 1989 »ein Tabu« gewesen, sagt Blanka Mouralová; in der offiziellen Geschichtschreibung seien die Deutschen faktisch nur als Wegbereiter der Okkupation vom März 1939 vorgekommen. Dass Tschechen und Deutsche zuvor ein fruchtbares Miteinander gepflegt und sich gegenseitig inspiriert hatten, wurde hingegen kaum thematisiert. Seither habe es 20 Jahre gebraucht, bis eine differenziertere Sicht auf die Geschichte möglich wurde, in der die Deutschen nicht nur Täter, sondern zuvor auch Nachbarn und später teilweise Opfer waren: Fernsehbeiträge über Verbrechen im Zuge der Aussiedlung, bei der 6500 Menschen umgebracht wurden und 20 000 aus anderen Gründen starben, sorgten zuletzt in Tschechien für viel Aufsehen.

Die Gründung des Collegiums ist nach Ansicht Mouralovás eine erstes Etappenziel bei dieser Annäherung an die eigene Geschichte. Es soll die Erkenntnisse nun bündeln, weiterentwickeln und bekannt machen: in Form der Ausstellung, mit Filmvorführungen und Konzerten, mithilfe von Konferenzen, Schulprojekten und Publikationen. Mouralová, die zuvor im Tschechischen Zentrum in Berlin gearbeitet hat, will die gemeinsame Geschichte dabei mit allen Höhen und Tiefen dargestellt wissen: »Es wird nichts beschönigt«, sagt sie. Zugleich wolle man das Thema aber nicht auf Krieg und Vertreibung reduzieren. Unter Beweis gestellt wurde das durch die erste Buchveröffentlichung, bei der es sich nicht um eine Monografie zu politischen Themen handelte, sondern eine Edition von Ottfried Preußlers Buch »Der Engel mit der Pudelmütze«.

Die Vorhaben des Collegium Bohemicum stoßen auf großes Interesse - in Deutschland und Österreich mindestens ebenso wie in Tschechien. Dem wissenschaftlichen Beirat gehören Experten aus München, Oldenburg und Dresden ebenso an wie Fachleute aus Prag und Ústí. Ehemals tschechische Deutsche und ihre Nachfahren kramen für die Ausstellung in Kellern und auf Dachböden nach Erinnerungsstücken. Aus Schweden kam ein Koffer, der den Nachlass von Josef Hofbauer enthält, eines sozialdemokratischen Autors, der in Wien geboren wurde, ab 1910 in Teplice lebte und in der NS-Zeit nach Skandinavien emigrierte. Die Spanne reicht zudem von Büchern und Briefmarken über Gemälde, Trachten und Werbeplakate bis zu Haushaltsgegenständen wie der Liwanzen-Pfanne, in der eine Art Hefeplinsen gebacken wird.

Die Ausstellung wird nicht zuletzt anhand solcher Erinnerungsstücke die Frage beantworten: »Kdo jsou naše Němci - Wer sind unsere Deutschen?« Einige Antworten werden bereits vorab gegeben: Vom 1. November bis zum 16. Dezember ist im Museum von Ústí eine Ausstellung zu sehen, in der es um die bewegte Geschichte der sudetendeutschen Sozialdemokratie sowie um die von Ernst Paul, eines ihrer bedeutenden Vertreter, geht.

Collegium Bohemicum im Stadtmuseum Ústí nad Labem, Brněnské ulice, Di. - So. 9-17 Uhr

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