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Am Ende die Frage: Warum?
Hermann Hesses »Unterm Rad«
Da dieses Büchlein von nur 150 Seiten tatsächlich »Unterm Rad« heißt, erinnert man sich, dass jenes kurze Leben des begabten Schülers Hans Giebenrath tragisch-tödlich endet.
Wiederlesen. Warum? Wen, unter den Älteren vor allem, beunruhigt nicht zutiefst die Schulsituation hier und weltweit? Es vergeht kaum ein Tag, da man nicht zu lesen findet: Frühförder-Wahnsinn, Erziehungs-Training, Disziplin-Probleme, hohe Schulabrechner-Quote, Sorgen-Telefon bei Zeugnisausgabe und - nur in Japan? - Schülerflucht vor Leistungsdruck und Leistungserwartung in den Suizid. Und: Mörderisches Amoklaufen an Schulen.
Schon um 1900 hatte es einen Stau von Schulproblemen gegeben. Er mündete in Europa und den USA in eine schier unglaubliche Fülle von Reformvorschlägen, praktischen Versuchen und Kongressen. Dennoch, alles blieb randständig.
Natürlich nahm die Literatur sich des Themas an. Weltweit. Die Autoren waren auch einmal Schüler gewesen. So gelangte künstlerisch gestaltete Authentizität in die Diskussion. Doch sie berührte allenfalls die Leser, nicht das System. Hermann Hesses »Unterm Rad« erreichte bis 2000 immerhin eine Auflagenhöhe von über zwei Millionen Exemplaren in 26 Sprachen. Allein, ein namhafter Kritiker schrieb bei Erscheinen des Romans sarkastisch und resignierend: »Der Roman enthält ungefähr eine Anleitung für Eltern, Vormünder und Lehrer, wie man einen gesunden, begabten jungen Menschen am zweckmäßigsten zu Grunde richtet, welche Wurzeln man abzuschneiden hat, damit das junge Stämmchen am schnellsten verdorrt und stirbt.«
Nach Ursachen des Scheiterns eines jungen Menschen zu fragen, vermag Literatur anders und besser als alle Soziologie, Psychologie, Statistik. Thomas Manns »Buddenbrooks«, 1901, hat als Keimzelle die schon 1897 geplante Novelle um Hanno Buddenbrook, letzten Spross der Familie. Er zerbricht, musikalisch höchst sensibel, an einer verständnislosen Schule. Rilkes Skizze »Die Turnstunde«, 1901, erzählt die sportlich selbsterzwungene Leistung des schlechtesten und schwächsten Turners der St. Pöltener Militär-Unterrealschule. Tödlich. Ein traumatisches Erlebnis des jungen Rilke, der daraus eigentlich einen »Militärroman« machen wollte. Emil Strauss' Roman »Freund Hein«, 1902, birgt schon im Titel das Motiv des Todes. Als der Gymnasiast Heinrich Lindner im Widerstreit zwischen seinen musischen Neigungen und den naturwissenschaftlichen Anforderungen der Schule und des Vaters versagt, wählt er den Freitod. Und so könnte man weiter aufzählen, zum Wiederlesen: Huchs »Peter Michel«, Musils »Die Verwirrrungen des Zöglings Törleß«, Heinrich Manns »Professor Unrat« u.v.a.m.
Auch Hesse erzählt autobiografisch. Zwar zweifelt er einen Moment lang, ob seine Geschichte nicht zu eingeengt »schwäbisch« sei; doch dann spricht er ihr »das allgemein Menschliche (als) vorwaltend« zu. So an seinen Verleger S. Fischer bei Einsendung des Manuskripts, Dezember 1903. Er selbst durchlief - wie Hans Giebenraht - die Pauk- und Qualstationen des Stuttgarter Landexamens und des Seminars im Kloster Maulbronn. Dann freilich ergriff er die Flucht, und es gelang die Selbstrettung vor einem System, das »ihn nach obrigkeitlicherseits gebilligten Grundsätzen zu einem nützlichen Gliede der Gesellschaft zu machen und die Eigenschaften in ihm zu wecken, deren völlige Abbildung alsdann die sorgfältige Zucht der Kaserne krönend beendigt« hätte. Letzteres ein Hieb auf das »Zollern« Berlin-Preußische!
Dem zum Primus gedrillten Hans Giebenrath stellt Hesse den genialischen Mitschüler Hermann Heilner (H.H.!) gegenüber. Er möchte ein Dichter werden, bricht aus, zieht den alleingelassenen Freund in eine abschüssige Bahn: »Immer wieder sehen wir Staat und Schule atemlos bemüht, die alljährlich auftauchenden paar tieferen und wertvolleren Geister an der Wurzel zu knicken ... Manche aber - und wer weiß wie viele? - verzehren sich in stillem Trotz und gehen unter.« So Giebenrath.
Leistungsdruck und -serwartungen hatten ihm Kindheit und Jugend geraubt. Das große Warum am Ende. Mehr Klage als Anklage. »Warum hatte er in den empfindlichsten und gefährlichsten Knabenjahren täglich bis in die Nacht hinein arbeiten müssen? Warum hatte man ihm (...) das hohle, gemeine Ideal eines schäbigen, aufreibenden Ehrgeizes eingeimpft?«
Der Schwabe Theodor Heuss, einst Bundespräsident, schrieb zu Hesses Roman: »Ein Tendenzwerk? Ja, dort, wo es mit warmen Worten das Recht der Jugend auf eine Jugend verlangt.«
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