456 Überstunden plus

Ärztegewerkschaft stellt Katalog zur Verbesserung des »Arbeitsplatzes Krankenhaus« vor

  • Sonja Vogel
  • Lesedauer: 3 Min.

Zu Beginn der Pressekonferenz des Marburger Bundes zu Patientenversorgung und Arbeitsbedingungen hält Kilian Tegethoff, Vorsitzender des Landesverbandes, ein eng bedrucktes Blatt in die Höhe. Darauf: ein aktueller Dienstplan aus dem operativen Bereich einer Einrichtung der Charité. Die Namen sind anonymisiert, in Kürzeln Sonderdienste und Abwesenheit vermerkt. Am rechten Rand steht die Summe der Überstunden, die die Ärzte seit Januar angehäuft haben: 395 Überstunden hinter dem ersten Namen, 456 hinter dem zweiten. »Das glaubt uns niemand.« Rund 60 Prozent der Kollegen hätten im selben Zeitraum mehr als 100 Überstunden geleistet, schätzt Tegethoff, der auch Personalrat an der Charité ist.

Zwar gilt Berlin als »Gesundheitsstandort« Deutschlands, die Missstände an den Kliniken sind allerdings bekannt. Das Hauptproblem: Chronischer Mangel an Personal und Geld. »Die Qualität der Patientenversorgung stirbt zentimeterweise mit der Dominanz der Kosten über die Qualität«, sagt Günther Jonitz, Präsident der Ärztekammer Berlin.

Um den sozialen Auftrag der Krankenhäuser in Zeiten der Personalkürzungen wieder den Fokus zu rücken, hat der Marburger Bund einen Katalog mit »Anforderungen an den ‚Arbeitsplatz Krankenhaus‘ aus ärztlicher Sicht zusammengestellt. Punkt 1: »Ein Krankenhaus ist kein Dienstleistungsunternehmen.« Mit Umsatzrenditen könne die Qualität der Patientenversorgung nicht gemessen werden. Um diese trotz Personalmangels sicherzustellen, fordert der Bund einiges - von der Einhaltung des Arbeits- und Tarifrechts, über eine umfassendere Mitbestimmung und Weiterbildung aller Mitarbeiter bis hin zur regelmäßigen Befragung der Patienten. Auf der Pressekonferenz gingen die Vertreter des Marburger Bundes, eigentlich eine Ärztevereinigung, noch weiter: Sie forderten Patienten auf, Missstände an die Öffentlichkeit zu tragen.

Für Günther Jonitz steht es außer Frage, dass der Personalabbau die Versorgungsprobleme im Gesundheitswesen verschärft. Ein Beispiel: Seit Abschluss des Tarifvertrags 2003 seien beim Krankenhausbetreiber Vivantes bis zu 2000 Stellen abgebaut worden - im Einvernehmen der Tarifpartner. »Der Grund für den Personalabbau ist mangelndes Geld«, sagt Tegethoff. Bis zu 65 Prozent der im Krankenhaus anfallenden Kosten entfielen auf das Personal, darum würden Stellen gekürzt.

»Mehr Patienten in kürzerer Zeit durch weniger Personal zu versorgen, wird nicht gut gehen«, ist sich Jonitz sicher. Statt Kosten beim Personal einzusparen, bräuchte es eine Optimierungsstrategie. Die Leitfrage hierfür laute dann: »Wie müssen die Bedingungen sein, zu denen Ärzte den Patienten den größtmöglichen Nutzen bringen können?«

Wichtig für die Optimierung sei auch die geschäftliche Grundlage der Krankenhäuser - ein Thema der aktuellen Koalitionsverhandlungen. »Die Rechtsform allein ist aber kein Grund dafür, dass es funktioniert«, sagt Jonitz. Ginge es nach ihm, würde Vivantes aber zur Aktiengesellschaft - zu 51 Prozent Landeseigentum und zu 49 Prozent in den Händen der Mitarbeiter. Indes dreht sich auch das Karussell um die Rechtsform der verschuldeten Berliner Charité weiter. Seit Dienstag ist eine Kooperation mit dem Max-Delbrück-Centrum als Bundeseinrichtung geplant.

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