Land der verschlossenen Türen
Ein ehemaliger FDP-Spitzenpolitiker rechnet mit der deutschen Gesellschaft ab
Als Thilo Sarrazins »Thesen« vor einem Jahr für Furore sorgten, musste man nicht lange suchen im Fachhandel: Hohe Stapel des Wälzers lagen oft am Eingang der Geschäfte bereit. Nun, im Herbst 2011, müssen die Angestellten einer Großbuchhandlung in Berlin-Mitte eine Weile suchen, bis sie den »Anti-Sarrazin« finden. Im dritten Stockwerk, weit hinten in einer Ecke, liegt das Buch »Kein schönes Land in dieser Zeit«, die autobiografischen Anmerkungen des früheren FDP-Spitzenpolitikers Mehmet Daimagüler zum »Märchen von der gescheiterten Integration«. Gleich neben den Titeln »Ich war ein Gotteskrieger - Mein Leben als Islamist« und »Richter ohne Gesetz - islamische Paralleljustiz gefährdet unseren Rechtsstaat«.
Doppelt so gut wie andere
Daimagüler, 1968 am Stadtrand von Siegen geboren, ist ein erfolgreicher Jurist und war einmal im Bundesvorstand der FDP. In seinem autobiografischen Essay setzt er nicht auf Pseudo-Wissenschaftlichkeit wie der von Zahlen besessene Sarrazin; er erzählt einfach nur. Wie er als Kind des Ärztehaushalts eines Spielkameraden verwiesen wurde, zum Beispiel. Daimagülers Jugend in den Siebzigern und Achtzigern war ein Kampf, nicht unter das »ihr«, sondern unter das »wir« zu fallen. Deshalb lernte er, über das Elternhaus zu lügen und die Geschichten zu erzählen, die man von ihm hören wollte. Er musste immer doppelt so gut sein wie andere und arbeitete hart. Am Ende war er Klassenbester im Deutsch-Abitur und wurde schließlich Jurist und Politiker. Doch noch immer wird er auf seine »Heimat« angesprochen, wenn es um die Türkei geht.
Das ist kein Einzelfall, sondern die Regel. Selbst im Sport sind »wir« noch nicht so weit. Zwar schaltet der Deutsche Fußball-Bund im Umfeld von Länderspielen herzzerreißende Spots, die für »Integration« werben sollen. Aber selbst bei »unserem« Mesut Özil ist das »Wir« noch nicht fest eingeschliffen. Erst kürzlich, als ein deutscher Sieg über Belgien der türkischen Mannschaft nutzte, sprach die ZDF-Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein gleich mehrfach davon, wie sehr Özil »seinen Landsleuten« damit geholfen habe. Dabei sollte doch wenigstens jemandem wie ihr präsent sein, dass es sich bei denen in den (meistens) weißen Leibchen um die Deutschen handelt.
»Held« oder »Kid«?
Als Özil vor einem Jahr in einem Fußballspiel gegen die Türkei gezaubert hatte, guckte er als »deutscher Held« von der Titelseite der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung«. Aufgemacht war das Blatt mit einer tendenziösen Geschichte über die angebliche »Deutschenfeindlichkeit« bedrohlicher »türkischer« Kids in Berlin. Hätte sich der »Junge aus Gelsenkirchen«, der kein guter Schüler war, mit 17 schwer verletzt, könnte Mesut Özil heute durchaus als »türkisches Kid« wahrgenommen werden - dabei wäre er doch derselbe Mensch.
Daimagüler, dessen Bruder auf die schiefe Bahn geraten ist, verdankt seinen Aufstieg auch dem Glück, dass es in der Nachbarschaft »Oma Phillipine« gab, eine ältere Dame, die ihm unbezahlt beim Lernen half.
Die jüngere »Integrationsdebatte« besteht aus Forderungen. »Wir«, das wird vorausgesetzt, hätten unseren Teil ja schon geleistet. Und wie schwach die Gegenrede eines liberalen Bürgertums ausfällt, demonstriert die jüngste Broschüre der Ex-Spitzenprotestantin Margot Käßmann. Nach 43 Seiten steuert ihr Essay »Vergesst die Gastfreundschaft nicht« auf die Feststellung zu, dass sich Gastfreundschaft lohne: Unter den Fremden könnten ja verkappte Engel sein.
Yilmaz und Müller
Daimagülers Autobiografie gibt einen Eindruck davon, wie ausgrenzend selbst manch wohlmeinende Wortmeldung klingen muss. Und solange über die Rechte und über die Leben von Einwohnern und sogar Bürgern des Landes unter dem Zeichen der »Toleranz« debattiert wird, desto tiefer greift die Absetzbewegung auf der subalternen Seite. Je älter er werde, desto »türkischer« mache ihn Deutschland, schreibt Daimagüler. Jeder Yilmaz muss sich heute auf »Ehrenmorde« ansprechen lassen, wo doch niemand einem beliebigen Müller mit »Familiendramen« käme. Da will auch ein Liberaler nicht im falschen Chor singen.
Er könne nicht länger die Wohlhabenden von einer offenen Gesellschaft sprechen hören, schreibt Daimagüler. Er habe verschlossene Türen erlebt. Dabei sei das »Problem« ganz simpel: »Ein armes Kind kann mit einem reichen Kind nicht mithalten. Ist man dummerweise arm und Ausländer, sieht es entsprechend düster aus.«
Daraus könnte man weitgehende Folgerungen ziehen. Daimagüler unterlässt das und spricht auch das Wort »Klasse« nicht aus. Doch in der FDP ist der frühere Mitarbeiter des Altliberalen Burkhard Hirsch nicht mehr aktiv.
Mehmet Gürcan Daimagüler: Kein schönes Land in dieser Zeit. Das Märchen von der gescheiterten Integration. Gütersloh 2011. 240 S., gebunden, 20 Euro.
Margot Käßmann: Vergesst die Gastfreundschaft nicht! Berlin 2011. 50 S., broschiert, 5 Euro.
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