Frost in allen Blüten
»Der Kirschgarten« von Anton Tschechow im Berliner Ensemble
Da gab es einmal, Ende des 19. Jahrhunderts, ein Gut, irgendwo in der russischen Provinz. Es hatte einen berühmten Kirschgarten, war aber hoffnungslos überschuldet und der baldigen Zwangsversteigerung ausgeliefert. Leute lebten dort, kamen zu Besuch, fuhren wieder weg, die sich irgendwie durch die Tage zu schummeln versuchten. Männer, Frauen, Mädchen, in Geschäft und Liebe Gescheiterte, ohne Antrieb, ohne Hoffnung. So beschreibt es Anton Tschechow in »Der Kirschgarten«, seinem letzten, der immer erneut ausbrechenden Tuberkulose abgetrotzten Stück. Ein tränenumflortes Drama also über verlorene Menschen, die blind durchs Dasein taumeln? Anton Tschechow urteilte anders. »Es ist kein Drama geworden, sondern eine Komödie, stellenweise sogar eine Farce«, schrieb er am 15. September 1903 an die Schauspielerin M. P. Lilina. Viele Regisseure, über viele Jahrzehnte Wege zur Deutung des Stücks suchend, sind dem Dichter in diesem auf Lockerheit, auf Frische, auf Tempo zielenden Hinweis nicht gefolgt. Thomas Langhoff, der den »Kirschgarten« jetzt am Berliner Ensemble inszenierte, auch nicht.
Er rückt das im Januar 1904, wenige Monate vor Tschechows Tod im Moskauer Künstlertheater uraufgeführte Stück weit weg, holt es gewissermaßen aus einer schon verblassten Erinnerung. Leidenschaften sind erloschen, Liebe wird gar nicht mehr versucht, Aufregungen bleiben gedämpft, wer da noch durchs einst prächtige Haus geistert, hat längst seine Wurzeln verloren. Die Gutsbesitzerin Ranjewskaja, aus Paris angereist, um das Ende des Besitzes irgendwie mitzuerleben, hat im Grunde kein Interesse an dem, was war, an dem, was geschieht und geschehen wird. Sie will ohnehin zurück nach Paris. Die anderen reden, seufzen, schimpfen, jammern, probieren dies oder das, und sind am Ende doch froh, einfach gehen und das lästige Haus verlassen zu können. »Das Leben ist vorbei gegangen, als ob es gar nicht dagewesen wäre« - Firs sagt das, der alte Diener, vergessen und eingesperrt im verriegelten Haus.
Aber die Erinnerung, die Langhoff heraufbeschwört, lastet schwer. Da ist der schwarze, fast leere Bühnenkasten, der sich mitunter zögernd dem Licht hingibt, von oben oder von den Seiten. Eine Gruft, ein weiträumiges Gefängnis, aber ein Gefängnis, das die Figuren, wenn sie nach hinten abgehen, ins Schwarze saugt. Es liegt eine Staubschicht über allem, auch die Kostüme (Wicke Naujoks) verzichten weitgehend auf helle, fröhliche Farben. Und so ist es konsequent, dass die Ranjewskaja nicht als die strahlende, liebeshungrige, sinnliche Schöne auf die Bühne kommt, sondern als vom Leben arg strapazierte Frau, die ihr Alter nicht zu verbergen versucht. Cornelia Froboess spielt die Gutsbesitzerin zurückhaltend, sachlich, nur gelegentlich nervös und zur Hysterie neigend. Diese Ranjewskaja erlebt die Katastrophe fast schlafwandlerisch, sie hat mit allem abgeschlossen, sie hat alles vorausgesehen. Nur ein Moment von Schmerz und Verzweiflung wirft sie aus der Bahn - wenn Kaufmann Lopachin, den sie heimlich liebt, ihr mitteilt, dass das Gut von ihm ersteigert worden ist.
Im Einerlei der gescheiterten Existenzen wird dieser Lopachin zum Brennpunkt der Aufführung. Robert Gallinowski spielt einen Emporkömmling, den der kaufmännische Erfolg fast in Stücke reißt. Der noch immer bäurische, kräftige Kerl kommt nicht zurecht mit der alten Liebe zur Herrschaft und den Zwängen des Geschäfts, die sich gegen die Herrschaft richten. Er wütet, er tobt, er zieht sich zurück, ist immer wieder da, wie ein zugleich gütiger und rächender Geist. Bescheidenheit, Stolz, Verzweiflung liegen im Streit, Gallinowski macht Lopachin zum schmerzbeladenen Sieger wider Willen.
Für das Ensemble (mit dem altersweisen Firs von Jürgen Holtz) setzt Thomas Langhoff auf gedämpfte Ruhe, Aufgeregtheiten werden nicht zugelassen, alles bleibt in einem ruhigen Fluss. Auch wenn im dritten Akt Festlichkeit aufscheint, Tanzmusik (Hans-Jörn Brandenburg) gemacht wird und die Gouvernante von Carmen-Maja Antoni ein paar Zaubertricks wie auf Bestellung abliefern darf - es ist, als verginge die Zeit langsam oder gar nicht. Dabei dauert die Aufführung (gespielt wird die Übersetzung und Bearbeitung von Thomas Brasch) nur etwas über zwei Stunden. »Der Kirschgarten«, in dieser Deutung, blüht schon lange nicht mehr. Wenn er je geblüht hat - vielleicht existiert er nur in der Erinnerung.
Weitere Aufführungen am 15. und 18. November.
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