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»Ihr Lehrerkinder! Ihr Reichen!«

Die Performancegruppe Turbo Pascal versucht mit Schülern eine »Publikumsbeschwörung«

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 3 Min.
Szene aus »Publikumsbeschwörung«
Szene aus »Publikumsbeschwörung«

Endlich ernstgenommen werden wollen Schüler der siebten, achten und neunten Klasse der Hector-Peterson-Schule in Kreuzberg. Diese Sehnsucht förderte die von den Schülern gemeinsam mit den Performern der Gruppe Turbo Pascal erarbeitete »Publikumsbeschwörung« im Dachstübchen des HAU2 zutage. Diese Beschwörung verdankte ihr Gerüst zwar der »Publikumsbeschimpfung« von Peter Handke. Sie verwandelte deren aggressive Komponente aber in ein Werben und ein subtileres Drohen. Mit diesen Mitteln spielten die Schüler mit den Konfrontationen im Schulalltag, dem Verhältnis von Heranwachsenden und Erwachsenen, insbesondere aber mit den Konflikten des Arabisch-, Türkisch- und Deutschseins.

»Das ist doch gar kein arabisches Märchen. Das ist doch Rotkäppchen«, ruft etwa enttäuscht die Performerin Eva Plischke, als der Schüler Ibo beginnt, auf arabisch das Märchen »Leila und Sem«, also »Leila und der Wolf«, zu erzählen. Zwar deckt der Abend nicht auf, ob es ein arabisches Pendant zu den Märchen sammelnden Gebrüder Grimm gab, ob die Dreieckskonstellation von Mädchen, Wolf und Großmutter über deutsche Märchenbücher in den arabischen Raum diffundierten, womöglich heimkehrende Kreuzfahrer diese Geschichte neben allerlei Salben und Tinkturen für ihre Wunden im Gepäck dabei hatten, oder solche Urgeschichten parallel an den unterschiedlichsten Orten entstehen. Aber die Episode wies doch daraufhin, dass mancherlei exotische Erwartung schlicht übertrieben ist.

Erfahrungen mit überzogenen Erwartungen - in diesem Falle schlechter Erwartungen und klischierter Befürchtungen - dürfte die Schüler zu folgendem Gespräch motiviert haben: »Die wollen was über uns wissen«, spekuliert Eren hinter den heruntergelassenen Jalousien einer Dolmetscherbox auf der Bühne. »Die wollen Talente sehen, Supertalente. Die wollen, dass wir Beatbox machen«, sekundiert Görkem. »Die wollen ein Stück zur Stunde sehen. Die wollen einen Beitrag zur aktuellen Zuwanderungs- und Islamdebatte sehen«, bringt dann wieder Eren die Erwartungshaltung auf den Punkt und verspricht gemeinsam mit Görkem: » Wir werden keine Gefühle spielen. Wir werden keine Kanaken-Gesten machen. Wir werden nicht überall rumtoben. Wir werden sauber bleiben und nicht stinken.«

Gut, so ganz hält sich das freche in Markentrainingsanzüge nach dem Vorbild der bundesdeutschen Fußballnationalmannschaft gesteckte Duo nicht an die Versprechen. Ohne Rumtoben und Prügeln - eine zeitverzögert inszenierte Schlägerei in der mit Schaumstoff ausgekleideten Kabine zaubert viel Freude in die Gesichter - kommen sie nicht aus. Auch die eine oder andere vulgäre Geste wird gezeigt. Und auf das Publikum wird mit Beschimpfungen wie »Ihr Langweiler. Ihr Nazis. Ihr Klugscheißer. Ihr Bio-Deutschen. Ihr Lehrerkinder! Ihr Reichen!« eine Menge milieuspezifischer Frust abgelassen.

Weil all diese Beschimpfungen, Drohungen und Versprechen in die Form von magischen Praktiken wie Gedankenlesen und Hypnose verpackt sind, wird ihnen an konfrontativer Schärfe genommen. Es stellt sich ein Nachsinnen über das Beleidigungs- und Verletzungspotenzial der Äußerungen und des Kontextes, aus dem sie stammen, ein. Die Theateraufführung selbst wird zu einem sanften Diagnosemittel. Sie entwickelt sogar therapeutische Wege. Das höchst umstrittene Wort »Integration« wird durch Verniedlichung mit dem Buchstaben Ö zunächst einiger Harschheit beraubt und mit der Einfügung eines R zum beidseitigen Austausch gewandelt: »IntERgratiÖn« heißt nun die neue Maxime.

Die durch den Projektfonds Kulturelle Bildung finanzierte Koproduktion von Turbo Pascal und den Schülern der dem HAU schräg gegenüber gelegenen Bildungseinrichtung ist ein gelungener Versuch, ein als »Problemfeld« diagnostiziertes gesellschaftliches Areal zum Gegenstand künstlerischer Praxis zu machen und dabei einige Klischees und Selbstgewissheiten anzukanten. Die »Publikumsbeschwörung« erfindet keine neue, perfekte Schule und auch kein multikulturelles Paradies. Aber sie macht darauf aufmerksam, dass wechselseitiges Zuhören und Artikulieren Kulturtechniken sind, die auch hier Effekte entfalten können. Auch Aufklärer können zuweilen Beschwörungen empfehlen.

15.11., 11 Uhr, Hebbel am Ufer

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