Sanktionen knebeln Syrien
Zwangsmaßnahmen der EU treffen vor allem die Bevölkerung
Nach Auskunft von Finanzminister Mohammed Jleilati wird Syrien sich nach neuen Handelspartnern umsehen. Märkte in Asien und Osteuropa, in Russland oder China kämen als Abnehmer für Rohöl in Frage, Syrien könne auch seine Ölreserven erhöhen. Das Wirtschaftswachstum sei »durch die Unruhen und die Sanktionen unter zwei Prozent« gesunken, so Jleilati. 2010 lag das Wirtschaftswachstum bei 5,5 Prozent. Mit Beginn des Winters machen sich Lieferengpässe für Heizöl bemerkbar, das von der Regierung subventioniert wird. 35 Prozent des Bedarfs kann Syrien selbst produzieren, 65 Prozent, die bisher vor allem aus Rumänien kamen, bleiben mit den EU-Sanktionen aus.
Alle Bereiche der Zusammenarbeit Syriens mit der EU sind von den Sanktionen betroffen. Die Bundesregierung schloss das Goethe-Institut und zog sämtliche deutschen Mitarbeiter aus gemeinsamen Projekten in Wassersektor, Stadtentwicklung, Finanzwesen und von den Universitäten ab. Der Botschafter wurde »zu Konsultationen« zurückgerufen. Mit einer dramatischen Reisewarnung, die Syrien gefährlicher als Afghanistan und Irak einstuft, kam der Tourismus zum Erliegen. Investitionen, die angesichts ausgebuchter Häuser bis zum Jahresende gemacht worden waren, zahlen sich nicht aus. Syrien rechnete für 2011 mit einer Steigerung von 30 Prozent im Tourismussektor, 2010 kamen rund acht Millionen Touristen. Personal wurde entlassen, Gehalt reduziert, Gastronomie und Transport sind ebenfalls betroffen. Auch in den Nachbarländern Libanon, Türkei und Jordanien ist der Rückgang des Tourismus enorm.
»Sehen sie in die Augen der Menschen«, rät ein Gesprächspartner, der anonym bleiben möchte, der Autorin in Damaskus. »Alle setzen eine tapfere Miene auf, doch alle sind über die Sanktionen besorgt. Kaum jemand hat noch Geld zur Verfügung, wie sollen die Menschen ihre Familien versorgen?« Die ohnehin hohe Arbeitslosigkeit steigt und wird mit neuen Sanktionen weiter zunehmen. Ziel sei es, die Bevölkerung gegen das Regime aufzuwiegeln, so der Gesprächspartner. Sanktionen stoppen auch eingeleitete Reformen, meint ein Journalist: »Wir haben ein neues Mediengesetz, aber keine Medien.« Mit Abzug ausländischer Firmen, Import- und Investitionsstopp sei das Anzeigengeschäft eingebrochen, Zeitungen stellten das Erscheinen ein. Neugründungen von Medien, wie im Gesetz vorgesehen, seien derzeit undenkbar.
Die Sanktionen werden weder das Regime stürzen noch einen wirtschaftlichen Kollaps herbeiführen, meint der Wirtschaftsberater Nabil Sukkar, der früher bei der Weltbank arbeitete. Lebensmittel- und Textilexporte in die Nachbarländer sind zurückgegangen, finden aber Abnehmer auf dem nationalen Markt. Die Regierung werde weniger Geld zur Verfügung haben und ihre Investitionen kürzen, so Sukkar. Kleine und mittelständische Betriebe würden das zu spüren bekommen, »die Sanktionen werden wirtschaftlichen und sozialen Schaden anrichten«. Die EU-Hilfe an Syrien war dafür bestimmt, die staatliche Planwirtschaft zu liberalisieren, der Prozess werde nun umgekehrt, so der Ökonom. Die Lebensverhältnisse der Bevölkerung würden sich verschlechtern. Das Regime werde seine Handelsbeziehungen nach Osten ausrichten, neue Verträge mit Irak, Iran, Russland und anderen asiatischen Staaten würden verhandelt.
Syrien steht vor einem Umbau seiner Energiewirtschaft. Bei sinkenden Förderquoten im Rohölbereich soll der Gassektor zu Land und zu Wasser entwickelt werden. Um die »richtige Mischung« im Energiesektor zu bekommen, sind Joint-Venture-Projekte mit Shell (Niederlande) und Total (Frankreich) vereinbart, die Investitionen für die kommenden zehn Jahre vorsehen. Neue Technologien sollen entwickelt, mehr in die Fachkräfteausbildung investiert und die Förderung von Gasressourcen ausgebaut werden. Da unklar ist, ob diese Konzerne sich aus Syrien zurückziehen, verhandelt Syrien bereits mit asiatischen und russischen Investoren. Bis 2025 will Syrien einen Energiemix gewährleisten, der einer wachsenden Bevölkerung und Industrialisierung gerecht werden kann.
Unterdessen haben nach Angaben von BBC Einheiten der aus desertierten Soldaten bestehenden »Freien Syrischen Armee« (SFA) in der Nacht zum Mittwoch eine Stellung des syrischen militärischen Geheimdienstes auf einem Flughafen bei Damaskus angegriffen worden. Der Sender berief sich auf Angaben des Syrischen Nationalrates in Istanbul. Demnach sei SFA-Anführer Riad Asaad vor zwei Tagen aus der Türkei nach Syrien zurückgekehrt, wo er persönlich die Angriffe gegen die syrische Armee anführe. Das syrische Fernsehen berichtete von einem nächtlichen Panzerbüchsenangriff auf ein Gebäude des syrischen Geheimdienstes in Harasta, einem Vorort von Damaskus. Angaben über Opfer wurden nicht gemacht.
Die Meldung kam zum Beginn des Außenministertreffens der Arabischen Liga in Rabat (Marokko), auf dem über weitere Zwangsmaßnahmen gegen Syrien beraten wird. Damaskus steht wegen der Unterdrückung der Protestbewegung am Pranger und will keinen Vertreter zu dem Treffen in Rabat entsenden.
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