»Alte Liebe Tempelhof«
Am Hafen besteht der Charme der Industriemetropole neben Cocktailbar und Einkaufszentrum
»Gestern war sie noch hier, heute ist sie wieder dort. Sonst tut sich hier nüscht.« Im Café Porto am Rande des Hafens Tempelhof sitzt Karl Wehner und zeigt mit der Hand aus dem Fenster auf ein altes Frachtschiff. »Alte Liebe Tempelhof« steht in roten Lettern auf dessen frisch gestrichener Seite. Gemeinsam mit seiner Frau Sabine kommt Wehner regelmäßig in das Café am Hafenbecken. Der Blick auf das Wasser beruhige ihn nach einem stressigen Tag.
An die am Rande des Beckens herumliegenden Baumaterialien haben sich die beiden gewöhnt. Auch an den verbeulten Bagger. Seit nunmehr vier Jahren wird am Hafen Tempelhof gebaut, aber die Arbeiten gehen nur schleppend voran. Nun sind sie fast abgeschlossen und einiges hat sich verändert. Sabine Wehner lässt ihren Blick über den alten Gebäudekomplex linkerhand schweifen und seufzt. »Schön, dass sie die Speicherhalle stehen lassen haben«, findet sie.
Das 1908 errichtete Speichergebäude zählt zu den ersten Stahlbetonbauten Deutschlands. Mittlerweile steht es gemeinsam mit einigen anderen Gebäuden des umliegenden Industriegebietes unter Denkmalschutz. Auch das Ullsteinhaus aus den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts ist ein solches Denkmal der Berliner Moderne. Auf der anderen Seite des Hafens am Teltowkanal gelegen, wirft es mittags seinen Schatten bis fast zum Hafenspeicher.
Zwar liegen keine 20 Jahre zwischen den Gebäuden. Trotzdem könnte sich der verspielte Klinkerbau kaum mehr von den Industriebauten unterscheiden. Aber genauso wie in den Industriedenkmälern spiegelt sich im, eigens für den namensgebenden Ullstein Verlag entworfenen Komplex, die wirtschaftliche Macht der Hauptstadt vor 100 Jahren wieder: Innerhalb kürzester Zeit war Berlin zum Hauptproduktionsort des Deutschen Reiches geworden und erlebte im Anschluss seine Blütezeit in Kunst und Wissenschaft. Dass der gerade einmal 70 Meter breite ehemalige Industriehafen eine große Bedeutung gehabt haben soll, ist heute schwer vorstellbar.
Anstelle der längst stillgelegten Holzkräne, bewegt sich heute im Hafen ein gelber Hydraulikkran. Lautlos hebt er Steinplatten auf einen flachen Neubau. Drinnen soll ein Indoor-Spielplatz entstehen. In den letzten Sommermonaten hatte auf einer Landzunge des Hafenbeckens bereits eine Cocktailbar mit großen Sonnenschirmen und Polstermöbeln eröffnet. Das Mobiliar ist mittlerweile winterfest verpackt, die Bar in einen Dornröschenschlaf gefallen.
Dass die Strandbar wird, hofft Edith Kramer. Vor 84 Jahren wurde sie am Tempelhofer Damm geboren. Als Kind hat sie den Hafen in seiner Blüte erlebt. Seit das »Porto« vor zwei Jahren eröffnet hat, kommt sie jeden Tag hierher. Die alte Dame freut sich auf das neue Leben in dem bis vor kurzem verwaisten Kiez. Denn während die Fabrikhallen allesamt leer stehen, ist in das Speichergebäude ein modernes Einkaufszentrum eingezogen. Nach der Restaurierung der Holzkräne soll auch die »Alte Liebe Tempelhof« als Restaurant-Kahn eine neue Funktion bekommen.
Dass die Veränderungen nur sehr langsam vorangehen, nimmt die Rentnerin gelassen. Sie ist sich sicher: »So schön wie jetzt war der Hafen noch nie.« Sie glaubt fest daran, die Wiedereröffnung der »Alten Liebe« noch zu erleben. Nicht zuletzt die Geduld, die sie dafür braucht, habe sie schließlich in einem knappen Jahrhundert am Tempelhofer Hafen erlernt.
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