Angst und Rohheit
Schandra Singh bei Nature Morte
Schandra Singh habe ihr Atelier nahe den Twin Towers gehabt, erzählt die Galeristen. Die indischstämmige, 1977 im Staat New York geborene Künstlerin gehöre zwar zu den Überlebenden von 9/11, sei allerdings von diesem traumatischen Ereignis geprägt. Stellte sie bislang eher daheim aus, hat sie nach Expositionen in Genf und London nun ihre erste Präsenz in Deutschland. Auch die Galerie Nature Morte unweit des Checkpoint Charlie fühlt sich zeitgenössischer indischer Kunst verpflichtet, wurde erst 2008 als Dependance des Hauptsitzes in Neu Delhi gegründet, den ein New Yorker führt. Berlin will Schandra Singh mit dem großen Zyklus »Candide« erobern und bezieht sich dabei auf Voltaires gleichnamige satirische Novelle von 1759.
Schandra Singh stellt auf riesigen Leinwänden ihre Gestalten wie den Helden Voltaires in eine Reisesituation. Überwiegend handelt es sich um 2008 bis 2011 entstandene Porträts von Menschen wohl afrokaribischer Provenienz, die in Zeiten globalen Terrors Strandurlaub machen. Alle tragen sie einen gewaltigen Kopf, der häufig halslos auf einem rudimentären Körper sitzt, der wieder in verzerrter Perspektive auf dürren Beinen ruht. Meist stehen die Figuren in einem Gewässer bedrohlicher Farbigkeit, das die Beinchen zusätzlich in Fragmente zerflirren lässt. Das Mädchen »Neha« von 2008 etwa, postiert in starrer Frontalsicht, trägt bunte Steine ins Schwarzhaar eingeflochten, Mund und Nase sind aufgeworfen, dünne Ärmchen planschen. Rechts und links zeigen wie in Luftblasen eingefasste Szenen fragwürdige Badefreuden: Menschen stehen, sitzen Hummer, Schwimmhilfen oder echte Tiere platt. Selbst das Wasser schlägt gefährlich gegen den Körper des Mädchens. Dessen Haut, wie auch bei allen Porträtierten, zerfasert und zerfällt in Farbflecken, die wie Tätowierungen oder ein runzlig braunvioletter Schuppenpanzer den Körper umschließen, ja gefangen halten.
Expressionistisch kraftvoll sind auch die anderen Darstellungen desselben Themas. »Annie« liegt in engem Bassin auf knallroter Luftmatratze, die geschlossenen Augen nehmen eine Gestalt mit Löwenmähne neben sich nicht wahr. Den Knaben »Dayton« umzingeln Tigerschwanz, Elefantenrüssel, Köpfe mit bleckendem Gebiss. Fröhlich indes wirkt die Szene ebenso wenig wie der lachende, aus »Steinchen« komponierte »Pualani«, der vier Augen und Zähne wie ein reißendes Tier hat, dem Vögel aus den knorrigen Ohren quellen und dessen Gestalt sich knallig von unbemalter Leinwand abhebt. Begriffe wie Warning, Saving weisen auf eingeschränkte Freiheiten hin. Gleich verdreifacht räkelt sich kretinhaft »The Dreamer« in geblümter Badehose, beäugt von einem Raubtier. Und »Bianca«, das Girl mit dem beißfreudigen Gebiss, zerquetscht grinsend eine solche Raubkatze.
Nur bei zwei der Exponaten meint man, der neue Candide, wie Singh ihn sieht, sei fündig geworden. »Neha (little)«, weit mehr noch »Untitled (small boy)«, ebenfalls Öl auf Leinwand, doch kleiner im Format, sind Lichtblicke an warmherziger Darstellung, ohne auf die typische Malweise zu verzichten.
Bis 3.12., Di-Sa 11-18 Uhr, Nature Morte, Zimmerstr. 90-91, Mitte, Telefon (030) 20 65 48 77
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