Erste Wahl

Kommentar von Jürgen Reents

  • Lesedauer: 3 Min.

Dass eine Partei über Alternativen an ihrer Spitze entscheidet, ist immer noch selten. In Union und FDP ist eine Wahl im Wortsinne - nämlich als Wahl zwischen Alternativen - genauso unbekannt wie dies zuvor bei allen Parteien in der DDR der Fall war. Die Entscheidung über die Parteiführung ist hier ein weitgehend inzestuöser Vorgang. Auf Parteitagen interessiert dann allenfalls noch, wie viel Zustimmung die zuvor von den obersten Gremien Ausgewählten über 80 Prozent erhalten. Bei der SPD gab es auf Bundesebene bislang zwei Ausnahmen: 1993, als der Vorsitzende Björn Engholm überraschend resignierte und Rudolf Scharping, Gerhard Schröder und Heidemarie Wieczorek-Zeul bei einer »Urwahl« konkurrierten. Zwei Jahre später kam es zur einzigen bisherigen »Kampfabstimmung« um den SPD-Vorsitz auf einem Parteitag, als Oskar Lafontaine den Amtsinhaber Scharping erfolgreich herausforderte. Es war zugleich eine Kursabstimmung: Lafontaine griff mit seiner Kandidatur vor allem Scharpings Befürwortung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr an. Für alle SPD-Vorsitzenden nach Lafontaine galt dann wieder das alte Ritual: Ihre Wahl auf dem Parteitag war nur die Bestätigung einer Vorgabe. Lediglich die Grünen sind mit der Tradition nicht-inszenierter Wahlen zur Parteispitze auf ihren Parteitagen groß geworden.

Nun geht die LINKE auch diesen Weg einer größeren innerparteilichen Demokratie. Entscheidend dafür ist nicht, ob dem Parteitag ein Mitgliedervotum vorgeschaltet wird, sondern dass es überhaupt und erstmals eine echte Wahl sein kann, bei der die Körperschaft Partei sich als Souverän auch in Personalfragen erweist. Zu einem Mitgliedervotum gibt es Für- und Gegenargumente, die abzuwägen sind. Nicht dazu gehört jedoch die Überlegung, wer dadurch mehr Vor- oder Nachteile hätte. Das würde dieses Instrument einem bloß taktischen Kalkül unterwerfen. Insofern ist es klug, dass Dietmar Bartsch seine Kandidatur von solchem Verdacht wieder befreit hat, sie nicht mehr an die Voraussetzung eines Mitgliedervotums bindet. Ob die östlichen oder die westlichen Bundesländer die stärkeren Bataillone in der Partei haben, sollte für solche Entscheidungen keine Rolle mehr spielen, es sei denn, man will die LINKE noch länger auf diesen Scheinkonflikt festnageln. Dieser würde ohnehin irgendwann auf diejenigen zurückschlagen, die jetzt noch meinen, ihn nutzen zu können. Was der LINKEN nun bevorsteht, ist die Herausforderung, die Entscheidung über ihr künftiges Spitzenpersonal (mit weiteren Kandidaten) zu einer politischen Debatte zu machen: über ihren weiteren Kurs und dessen optimale Umsetzung, aber auch über den Wert und die Selbsterhaltung eines linkspluralistischen Projekts. Dazu muss man sich nicht zum Zentristen erklären. Es genügt, sich nicht als alleinigen Wahrheitspächter zu begreifen und die gern zitierte »Freiheit der Andersdenkenden« auch in der eigenen Partei zu respektieren.

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