Zonenübergreifender Wille
Wie in Sachsen so in Hessen? - Volksentscheid vor 65 Jahren
Die erste Befragung von Deutschen darüber, ob eine konsequente Bekämpfung der Wurzeln des Faschismus auch die Enteignung der Konzernunternehmen erforderlich mache, wurde Ende Juni 1946 in Sachsen durchgeführt. Das Ergebnis ist bekannt: Eine überwältigende Mehrheit (77,6 Prozent) sprach sich - bei einer Wahlbeteiligung von 94 Prozent - für die Enteignung der »Naziaktivisten und Kriegsverbrecher« aus.
Die »Aufarbeiter« der DDR-Geschichte haben damit ein Problem. Man kann ja angesichts dieser Tatsachen schlecht behaupten, dass Verstaatlichungen von den Sowjets oder der SED-Führung verordnet und am Volk vorbei beschlossen wurden. Ein beträchtlicher Teil der ostdeutschen Bevölkerung - knapp 3,5 Millionen, Bürger des Landes der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), in dem über die Hälfte der in Frage kommenden Betriebe lagen - hatte in freier Entscheidung Position bezogen. Man habe die Teilnehmer der Volksabstimmung ausgetrickst, wird gern argumentiert. Da die »Zonenmachthaber« gewusst hätten, dass es für eine Verstaatlichung ansonsten keine Mehrheit geben würde, habe man die Besitzer der Konzerne allesamt zu Kriegsverbrechern abgestempelt. So die Argumentation der »Aufarbeiter«.
Dass es sich anders verhielt, das Wissen um die Schuld der Großindustriellen nicht das Resultat von Einflüsterungen der den Osten dominierenden Kommunisten, sondern in ganz Deutschland Gemeingut war, dafür gibt es aus den ersten beiden Nachkriegsjahren genügend Beispiele, auch aus den Westzonen. Das überzeugendste ist die Abstimmung über Artikel 41 der Hessischen Verfassung, die am 1. Dezember 1946, ein knappes halbes Jahr nach dem Volksentscheid in Sachsen stattfand. Der Artikel bestimmte, dass mit Inkrafttreten der Verfassung »der Bergbau, die Betriebe der Eisen- und Stahlerzeugung, die Betriebe der Energiewirtschaft und das an Schienen oder Oberleitungen gebundene Verkehrswesen« in Gemeineigentum zu überführen sind. Darüber hinaus seien die Großbanken und Versicherungsunternehmen vom Staat zu beaufsichtigen oder zu verwalten. Damit sollte »monopolistischen Machtzusammenballungen und Missbrauch wirtschaftlicher Freiheit zu politischer Macht« (Artikel 39) ein für alle Mal ein Riegel vorgeschoben werden. Der Verfassungsentwurf - und damit auch die Artikel 39 und 41 - war von einem Vorbereitenden Verfassungsausschuss ausgearbeitet worden, der seine Arbeit im März 1946 aufgenommen hatte. Er war keineswegs von Linken dominiert. Ihm gehörten Landespolitiker und Wissenschaftler (Staatsrechtler, Historiker) an. Die Politiker kamen überwiegend aus CDU und SPD, nur ein KPD-Funktionär war im Ausschuss vertreten. Nach einem halben Jahr, Ende September 1946, lag das Ergebnis der Beratungen vor.
Die für Hessen zuständige amerikanische Besatzungsmacht hatte die Abstimmung über die Verfassung zu genehmigen. Sie bestand darauf, dass über Artikel 41 gesondert abgestimmt werde. 72 Prozent der um ihre Meinung befragten Hessen, fast so viele wie ein halbes Jahr zuvor in Sachsen, stimmten am 1. Dezember 1946 Enteignung bzw. Staatsaufsicht zu, Maßnahmen also, die in den Westzonen in den ersten Nachkriegsjahren landläufig als Sozialisierung bezeichnet wurden. Das dürfte als Gegenbeweis in Richtung der »Aufarbeiter der DDR-Geschichte« bereits genügen. Zu beantworten bleibt nur noch die Frage, warum in Sachsen (und der gesamten Sowjetischen Besatzungszone) Gemeineigentum entstand, in Hessen (und der übrigen Westzone) dagegen nicht.
Da ist zunächst die Haltung der Besatzungsmacht. Das amerikanische Außenministerium hatte in einer noch unter der Regierung Roosevelt im Juli 1944 erfassten Denkschrift über die Behandlung Deutschlands nach dem Kriege vorgesehen, die Monopolunternehmen einer effektiven öffentlichen Kontrolle zu unterwerfen. Darüber hinaus war ins Auge gefasst worden, bestimmte Indus-trien zu verstaatlichen. Davon wollte zwei Jahre später die US-amerikanische Militärregierung, unterstützt vom Kriegsministerium der Regierung Truman, nichts mehr wissen. Dem Chef der Militärverwaltung, Lucius Clay, war Artikel 41 ein Dorn im Auge. Er ordnete die gesonderte Abstimmung über den missliebigen Artikel an, in der Hoffnung, dass der hessische Wähler, explizit zu Enteignungen befragt, gegen den Artikel stimmen würde. Doch Clay hatte sich gründlich geirrt. Die Zustimmung zum Artikel 41 lag nur marginal unter der zur Gesamtverfassung.
Zur Umsetzung des Verfassungsartikels in ein Gesetz, wie in Sachsen und den anderen vier Ländern der SBZ zwischen Mai und Juni 1947 geschehen, kam es in Hessen nicht mehr. Im Mai 1949 trat das Grundgesetz und damit die Verfassung für die Bundesrepublik in Kraft. Es war im Auftrag der drei westlichen Besatzungsmächte auf dem »Verfassungskonvent in Herrenchiemsee« im August 1948, innerhalb von zwei Wochen, von deutschen Verwaltungsbeamten und Politikern in Klausur ausgearbeitet worden. Einen »Sozialisierungsartikel« enthielt das Grundgesetz nicht. Wohl aber eine Bestimmung, dass (gemäß Artikel 31) Bundesrecht Landesrecht bricht. Die Bestimmungen des Artikels 41 der Hessischen Verfassung wurden deshalb nie verwirklicht. Und im Unterschied zur hessischen Verfassung hat es über die bundesdeutsche niemals (weder 1949 noch 1990) einen Volksentscheid gegeben.
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