Neutrinos contra Einstein

Können Teilchen schneller sein als Licht?

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 3 Min.

Seit September herrscht Aufruhr unter Physikern. Denn im sogenannten Opera-Experiment hatten Neutrinos die rund 730 Kilometer lange Strecke zwischen dem europäischen Kernforschungszentrum CERN bei Genf und dem italienischen Gran-Sasso-Massiv um 60 Milliardstel Sekunden schneller zurückgelegt als das Licht. Und das ist nach der Einsteinschen Relativitätstheorie bekanntlich verboten.

Gleichwohl tun sich die meisten Physiker schwer, diese ansonsten vielfach bestätigte Theorie vorschnell in Zweifel zu ziehen. Sie suchen stattdessen nach Möglichkeiten, das Messergebnis im traditionellen Sinn zu deuten. Ein übersehener Messfehler wird dabei ebenso in Betracht gezogen wie eine Unkorrektheit bei der höchst aufwendigen statistischen Analyse der erhobenen Daten.

Rolf Heuer, der Generaldirektor des CERN, sieht all dies mit Gelassenheit: »Wir sind korrekt vorgegangen. Es hat bisher keiner einen Schwachpunkt in der Auswertung gefunden.« Um weiteren Einwänden gewissermaßen vorzubeugen, haben die Opera-Physiker das Experiment mit größerer Genauigkeit wiederholt und dabei auch ihre statistischen Analysen verfeinert. Am Ergebnis änderte das nichts. Erneut waren die gemessenen Neutrinos um eine Winzigkeit schneller als das Licht. Trotzdem bleiben die CERN-Forscher vorsichtig und schreiben am Ende eines jüngst veröffentlichten Artikels (Internet: arxiv.org/ abs/1109.4897): »Wohlüberlegt unternehmen wir keinen Versuch der theoretischen und phänomenologischen Interpretation der Ergebnisse.«

Für diese Zurückhaltung gibt es in der Tat gute Gründe. Denn inzwischen wurde der Versuch in einer etwas veränderten Form durchgeführt, ohne dass sich dabei Hinweise auf überlichtschnelle Neutrinos ergeben hätten. Im sogenannten Icarus-Experiment schickten Physiker ebenfalls einen Neutrino-Strahl von Genf ins Gran-Sasso-Massiv. Allerdings bestimmten sie nicht die Geschwindigkeit der elektrisch neutralen Teilchen, sondern deren Energie. Anlass dafür war eine zuvor geäußerte Prognose des US-Physiknobelpreisträgers Sheldon Glashow, wonach überlichtschnelle Neutrinos auf Grund der sogenannten Tscherenkow-Strahlung auf ihrem Weg Energie verlieren müssten. Doch genau das konnte im Experiment nicht verifiziert werden (Internet: arxiv.org/abs/ 1110.3763). Die Teilchen hatten beim Eintreffen in Gran Sasso die gleiche Energie wie beim Start in Genf.

Noch ist das letzte Wort über die Neutrino-Experimente nicht gesprochen. Erst Mitte des nächsten Jahres wird es in den USA und vielleicht auch in Japan möglich sein, die vorliegenden Ergebnisse einer unabhängigen Überprüfung zu unterziehen. Und selbst wenn sich dabei zeigen sollte, dass Neutrinos mit Überlichtgeschwindigkeit unterwegs sein können, wäre das nicht das Aus für Einstein.

Denn die Lichtgeschwindigkeit wird nur um einen sehr geringen Betrag überschritten, so dass es verlockend erscheint, diesen Effekt über die Wellennatur der Neutrinos und somit quantentheoretisch als Interferenzeffekt zu beschreiben. »Aus der Optik ist bekannt, dass die Überlagerung von Wellen dazu führen kann, dass sich Teile des Lichtimpulses schneller fortbewegen, niemals aber ein komplettes Wellenpaket«, sagt Siegfried Bethke, der Direktor des Münchner Max-Planck-Instituts für Physik: »Möglicherweise gilt dasselbe für Neutrinos.« Wie auch immer, selbst eine Modifikation der Relativitätstheorie wäre für die Physik keine Katastrophe, sondern nur ein weiterer Schritt in der wissenschaftlichen Erkenntnis der Natur.

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