Wenn selbst der Tod Angst hat
Die Ausstellung »Reconsidering Roma« hinterfragt gelungen gängige Sichtweisen über Sinti und Roma
Ist es möglich, Kunst von und über Roma auszustellen, ohne sie damit gleichsam in ein Folklore-Ghetto zu manövrieren oder gar einem »Ethno-Labeling« ungewollt Vorschub zu leisten? Denn der Hunger der konsumistischen Kunstwelt nach neuen Trends und exotischen Strömungen ist bekannt und will ständig bedient werden. Dieser schwierigen Aufgabe haben sich Lith Bahlmann und Matthias Reichelt mit der Ausstellung »Reconsidering Roma - Aspects of Roma and Sinti Life in Contemporary Art« erfolgreich gestellt. Die beiden Kuratoren zeigen siebzehn sehr unterschiedliche künstlerische Positionen in zwei Etagen des Studio 1 im Kunstquartier Bethanien, die nicht nur gängige Sichtweisen auf Sinti und Roma spiegeln und hinterfragen, sondern vor allem auf die gegenwärtige und historische Situation von Roma in Europa Bezug nehmen. Denn die Lage der Roma, Europas größter und auch am meisten rassistisch diskriminierter Minderheit, hat sich trotz politischer Schutz- oder Förderprogramme in den letzten Jahren weiter verschlechtert.
Zentraler Blickfang der Ausstellung ist die vielteilige Installation »Witch Hunt« (Hexenjagd) von Delaine Le Bas, die den großen Innenraum und die Apsis der »ehemaligen Kapelle« bis hin zu den Wänden bespielt. Was wie ein begehbarer Bühnenraum mit bunt kostümierten Figuren anmutet, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als verspieltes Horrorkabinett. Le Bas stellt Elemente aus Folklore und Populärkultur neben Kitsch, arrangiert Spielzeug- und Schaufensterpuppen zu Szenen voller Gewalt, die zugleich mit bunten, handgenähten Stoffen und Stickereien ausstaffiert sind. Die Inszenierung wird so zu einem Sinnbild für verhängnisvolle, stigmatisierende Vorurteile über Roma, aber auch die Widersprüche und Gegensätze ihrer Kultur.
Der Völkermord an etwa 500 000 Sinti und Roma in der NS-Zeit, den der Repräsentant der niederländischen Sinti und Roma, Zoni Weisz, als »vergessenen Holocaust« bezeichnet hat, wird in dem Bilderzyklus »Die zwölf Kreuzwege der Roma und Sinti« von Karl Stojka sowie in der Serie »Sogar der Tod hat Angst vor Auschwitz« seiner Schwester Ceija Stojka thematisiert. Die im Zeitraum 1985-1992 bzw. 1997-2004 entstandenen Bilderfolgen gehen unter die Haut und belegen, wie wichtig die Visualisierung persönlicher Erinnerungen von Zeitzeugen ist, um die herrschende Ignoranz zu durchbrechen.
Tamara Moyzes und Tamara Grcic untersuchen in ihren filmischen Arbeiten die aktuelle Situation von Roma insbesondere im Hinblick auf bestehende Klischees und Geschlechterrollen. In dem Kurzfilm »Miss Roma« thematisiert Moyzes bissig-ironisch Erfahrungen von Diskriminierung durch Zutrittsverweigerung zu (öffentlichen) Geschäften oder Lokalen in ihrer tschechischen Heimat aufgrund der äußeren Erscheinung. Tamara Grcic zeigt in dem Video »Bolek« das Porträt einer 24-jährigen Romni aus Polen, die als Gebrauchtwagenhändlerin in Frankfurt lebt. Die Irritation darüber, dass diese Romni keine der gängigen Vorstellungen über »Zigeunerinnen« erfüllt, entlarvt dabei offensichtlich vorhandene eigene Vorurteile.
Dieser Aufklärungsanspruch zieht sich wie ein roter Faden durch die Ausstellung, denn der Begriff »Reconsidering« bedeutet sowohl nachprüfen als auch neu überdenken. Die begleitende Publikation dokumentiert daher nicht nur die Ausstellung, sondern versammelt lesenswerte Essays von Herbert Heuss, Silvio Peritore, Rafaela Eulberg und Ines Busch, in denen die in der Kunst aufgeworfenen Fragen vertieft und weitergeführt werden.
Weitere Künstler der Ausstellung sind unter anderem Daniel Baker, Bankleer, Eliza Petkova, Nihad Nino Pušija, Marika Schmiedt, Dávid Szauder, Norbert Szirmai, Rosa von Praunheim und Christoph Wachter & Mathias Jud.
Bis 11. Dezember, Kunstquartier Bethanien / Studio 1, Mariannenplatz 2, Kreuzberg, täglich 12-19 Uhr, Eintritt frei, Infos unter www.reconsidering-roma.de
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