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Europa neu denken
Eine kleine Geschichte der EU - und die Herausforderungen für die Linke
Der Versuch einer politischen Einigung Europas hat eine lange Geschichte. Erste Ansätze gab es bereits im 19. Jahrhundert; als politische paneuropäische Bewegung erlebte der Europa-Gedanke eine Blüte in der Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg. Die Paneuropäer hofften, mit ihrem Projekt den Nationalchauvinismus bekämpfen zu können. Aber, wie der Historiker Alexander Tschubarjan feststellte: »Das Anwachsen des Nationalismus und Chauvinismus in Deutschland und des Rechtsextremismus im gesamten bürgerlichen Europa, die Weltwirtschaftskrise, der deutliche Niedergang pazifistischer Ideen - das alles bewirkte Resignation und Ermüdung unter den europäischen Intellektuellen und erschwerte es faktisch, irgendeine vereinende Idee zu finden, es untergrub auch die Grundlagen der Paneuropabewegung in der zweiten Hälfte der 20er und zu Beginn der 30er Jahre.«
Das Manifest von Ventotene und der Kalte Krieg
Mit der nationalsozialistischen Herrschaft Deutschlands über Europa war es erst einmal vorbei mit allen paneuropäischen Versuchen. Die Vorstellung einer europäischen Nachkriegsordnung entstand in den Lagern und Gefängnissen der Nazizeit. Ziel war eine politische, föderalstaatliche Organisation Europas. Die Widerstandskämpfer wollten den Abschied von der Nationalstaatlichkeit, denn der übersteigerte Nationalismus hatte zum Imperialismus und schließlich in den Faschismus geführt. Dass ein vereintes Europa die Antwort auf die Erfahrungen der Naziherrschaft über Europa sein kann, findet sich in allen Konzepten des antifaschistischen Widerstands, von ganz links bis konservativ. Im Manifest von Ventotene, dem Urtext des modernen europäischen Föderalismus, schrieben Altiero Spinelli, Ernesto Rossi und Eugenio Colorni 1941 während ihrer Haft auf der berüchtigten Gefängnisinsel: »Das Problem, das in erster Linie zu lösen und ohne dessen Bewältigung jeder andere Fortschritt nur Schein ist, ist die endgültige Beseitigung der Teilung Europas in souveräne Nationalstaaten. Der Zusammenbruch der meisten Staaten des Kontinents unter der deutschen Dampfwalze hat das Schicksal der europäischen Völker bereits gleichgemacht.«
Ab 1944 in den bereits befreiten Gebieten und ab 1945 in allen Ländern Europas fand die Idee schnell Verbreitung. Das Manifest von Ventotene wurde die Grundlage für die Idee der Vereinigten Staaten von Europa. Aber mit dem beginnenden Kalten Krieg war es schnell wieder vorbei mit der Projektion einer offenen Zukunft. 1947 bekamen westeuropäische Staaten das Angebot des Marshall-Planes von den USA - mit der Absicht, diese zu binden und gegen den »Ostblock« in Stellung zu bringen. Die UdSSR reagierte 1949 mit der Gründung des Rats für gegenseitigen Wirtschaftshilfe. Der Marshall-Plan führte zur Gründung der OECD, es folgte nach der Berlin-Blockade die Gründung der NATO und des Europarates, der so ziemlich genau den britischen Vorstellungen der europäischen Integration entspricht: eine Versammlung nationaler Parlamentarier ohne jegliche Entscheidungskompetenz. Mehr schien am Ende der 40er Jahre nicht möglich zu sein. Für die leidenschaftlichen europäischen Föderalisten muss es entsetzlich gewesen sein: Nie hatte der Gedanke der europäischen Integration eine größere Ausstrahlungskraft als in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg - und doch schien nichts vorwärtszugehen, aus mehreren Gründen: dem Ost-West-Konflikt, den nationalen Borniertheiten, dem Herrschaftsinteresse der USA über Westeuropa, um nur einige zu nennen.
Dies war die Ausgangslage für das, was wir im Prinzip auch noch heute als Europäische Union haben. Für die Realisierung des ersten Schrittes zur Europäischen Gemeinschaft, der Montanunion, wurde allerdings eine andere, die sogenannte funktionalistische Strategie gewählt. Sie ist bis heute maßgeblich für die europäische Integration: Partielle gemeinsame Wirtschaftsinteressen werden gemeinschaftlich organisiert und - so hofften zumindest die Vertreter des politischen Europa - auf diese Weise würde schließlich die politische Einigung unabwendbar werden. Jean Monnet, gern als »Vater der europäischen Integration« bezeichnet, sagte 1950: »Eine Entität wird nicht durch die Addition von Souveränitäten geschaffen, die sich in einem Rat versammeln. Das wirkliche Europa muss man (anstreben) durch die Schaffung gemeinsamer ökonomischer Grundbedingungen und zugleich die Installierung neuer Autoritäten, die von den nationalen Souveränitäten anerkannt werden.«
Vergemeinschaftete Wirtschaftsinteressen
In diesem Sinn wurden die Römischen Verträge 1957, die Einheitliche Europäische Akte zur Einführung des Binnenmarktes, der Maastrichter Vertrag und die folgenden Abkommen bis hin zum Lissabonner Vertrag geschlossen. Es geht im Wesentlichen um die Vergemeinschaftung der mächtigsten gemeinsamen Wirtschaftsinteressen. Als markanteste Beispiele hierfür können die Deregulierung der europäischen Märkte durch die Binnenmarktsgesetzgebung wie auch jene der Finanzmarktpolitik für die Einführung der gemeinsamen Währung gesehen werden.
Wie zäh und mühsam und im Endeffekt unbefriedigend der Kampf um das politische Europa bis jetzt gewesen ist, sei am Beispiel der Einheitlichen Akte zur Einführung des großen Binnenmarktes verdeutlicht: 1976 beschlossen die Mitgliedsstaaten die Direktwahl des Europäischen Parlamentes, die dann 1979 zum ersten Mal durchgeführt wurde. Die europäischen Föderalisten hofften, dass nun endlich der Nukleus des europäischen Föderalismus im Entstehen sei, nämlich eine europäische Konstituante. Altiero Spinelli, der zuvor schon EG-Kommissar gewesen war, hat als Abgeordneter von 1976 bis zu seinem Tod 1986 unermüdlich für eine europäische Verfassung gestritten. Das Ergebnis der vielen Berichte, Entschließungen und Debatten um den Verfassungsentwurf von 1984 war aber dann die Einheitliche Europäische Akte, die 1987 in Kraft gesetzt wurde. Die bereits 1957 angestrebte Freizügigkeit für Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräfte sollte mittels eines riesigen Deregulierungsprozesses umgesetzt werden. Zwar wurden einige wenige Kompetenzen in der Umwelt- und Sozialpolitik mit ins europäische Regelwerk eingeschrieben - aber der wesentliche Inhalt war die Deregulierung des Marktes. Das Einzige, was die Föderalisten erreichten, war für bestimmte Bereiche ein Mitentscheidungsverfahren für das Europäische Parlament. Die Konsequenz im Maastrichter Vertrag von 1992 war dann wiederum das funktionalistische Projekt einer gemeinsamen Währung ohne gemeinsame Finanzpolitik. Dazu kam der Anspruch, nunmehr als politische Union zu firmieren. Dieser Anspruch blieb aber eine leere Hülle.
Mit der Finanzkrise wird nun sichtbar, dass der ganze Koloss auf tönernen Füßen steht. Das Menetekel ist nicht zu unübersehen: Marktliberalismus ohne politische Steuerung führt in die Katastrophe. Und politische Macht ohne Demokratie in die Euro-Diktatur.
Es ist mit jeder der Entscheidungen zur Finanzkrise offensichtlich, dass die EU eine Transferunion ist und dass sie finanzpolitische Entscheidungen trifft, aber dies nur in der exklusiven Veranstaltung der Regierungschefs, die ihre jeweiligen national bornierten Machtinteressen vertreten und nicht in der Lage sind, auch nur einen kleinsten gemeinsamen Nenner eines übergreifenden europäischen Interesses zu wahren. Die Bürgerinnen und Bürger sind außen vor bzw. demonstrieren gegen die neue neoliberale Offensive, die als Austeritätspolitik unmittelbar die zum Teil sehr bescheidenen Besitzstände an wohlfahrtsstaatlichen Regulierungen in den einzelnen Mitgliedsländern angreift. Ist die EU also am Ende?
Man kann den Schluss ziehen, die europäische Integration in ihrer funktionalistischen Ausrichtung ist an ihrem eigenen Erfolg gescheitert. Es erweist sich, dass die Vergemeinschaftung der mächtigsten Interessen eben nicht zu einem politischen Ganzen führt. Diese Politik betrachtet die existenziellen Interessen der Menschen als nachrangig, schwach und unerheblich. Wie anders kann es sein, dass Arbeitnehmerrechten und Sozialpolitik so wenig Kompetenzen auf europäischer Ebene zugesprochen werden und dass die demokratische Strukturierung der EU - also die Prinzipien der Transparenz, Partizipation und Repräsentativität der Entscheidungsprozesse - so wenig als zentrale Struktur verankert wird?
Die Europäische Union in ihrer heutigen Gestalt hat keine Akzeptanz mehr bei den Bürgerinnen und Bürgern. Soviel ist klar. Was aber kann die radikale Linke als Alternative anbieten?
Schauen wir kurz auf die Geschichte. Die Sozialdemokratie hat bereits 1925 die europäische Einigung als Ziel in ihr Programm aufgenommen. Die kommunistischen Parteien hingegen lehnten eine Vereinigung von Staaten ab und setzten auf die Vereinigung der Arbeiterklasse im revolutionären Kampf und auf den Internationalismus der Arbeiterbewegung. Während der Naziherrschaft und später folgten die kommunistischen Parteien Westeuropas den Vorgaben der Sowjetunion, die aber mehr und mehr der Ausdruck eines Hegemonialinteresses waren. Die Parteien setzten zwar weiterhin auf die Idee des Internationalismus - faktisch aber waren sie in reaktionären Nationalismen gefangen. Dies änderte sich erst durch den Eurokommunismus, der von Italien ausging und auch in Frankreich und Spanien Verbreitung fand. Man könnte sagen, in dem Maße, in dem sich die kommunistischen Parteien Westeuropas von der Sowjetunion emanzipierten und die Programmatik des demokratischen Sozialismus entwickelten, in diesem Maße nahmen sie auch Konzepte der europäischen Einigung auf. Es gibt hier also keine unmittelbare und starke Traditionslinie.
Die Linke muss Integration neu deklinieren
Die radikale Linke hat es sich schwer gemacht mit ihrem Verhältnis zu Europa. Auch heute noch finden wir kommunistische Parteien (z.B. in Portugal und Griechenland), die eine europäische Einigung einzig als Instrument der Konzerne betrachten und kategorisch ablehnen. Die Diskussion ist nun neu eröffnet. Angesichts des Scheiterns der funktionalistischen Strategie der Einigung Europas erscheint es angemessen, Europa als demokratische politische Entität neu zu denken und dabei an Altiero Spinelli anzuknüpfen. Die ursprüngliche Idee, durch die Überwindung der Nationalismen Europa friedensfähig zu gestalten und durch eine gemeinsame Wirtschafts- und Sozialpolitik zum Wohlstand der Bürgerinnen und Bürger beizutragen, hat nach wie vor Aktualität. Und der Entstehungskontext der europäischen Integration aus dem antifaschistischen Widerstand während der Naziherrschaft muss neu in die linke Debatte eingeführt werden angesichts der Zerstörungskraft der aktuellen Krisen und dem wachsenden Nationalismus und Rechtsextremismus in Europa. Die beiden historischen Versprechen des Friedens und des Wohlstands müssen von linker Seite neu dekliniert werden: Friedenspolitik als innere und globale Aufgabe, Wohlstand für alle als wohlfahrtsstaatliche Aufgabe und unter den Vorgaben einer sozial-ökologischen Transformation und schließlich: Demokratie nicht nur auf der klassischen abstrakten Ebene der Verfassungsdebatte, sondern als innerer Demokratisierungsprozess, in dem die Bürgerinnen und Bürger die handelnden Subjekte der europäischen Einigung sind.
Die Autorin, frühere Abgeordnete des Europäischen Parlaments, leitet das Brüsseler Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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