Auch Rabbiner wehren sich gegen Fanatiker
Nach Protesten gegen ultraorthodoxe Sektierer diskutiert Israel über Grenzen der Religionsfreiheit
Als am Dienstagabend in Beit Schemesch, einer Kleinstadt nordwestlich von Jerusalem, um die 3000 Menschen gegen religiösen Fanatismus demonstrierten, hat Sigal vom Jugendamt bei einem Richter im Familiengericht gesessen. »Es war wie immer sehr frustrierend«, sagt sie. »Papa hat einmal zu oft zugeschlagen und das Kind ist im Krankenhaus gelandet. Wir haben für so etwas Gesetze und ein System, das den Kindern helfen soll.«
Doch das System hat versagt. Am Donnerstag erklärte der Jerusalemer Polizeichef vor dem Wirtschaftsausschuss der Knesseth, man mache nun ernst, unternehme wirklich etwas. Zu lange habe man vor dem Problem die Augen verschlossen. Die Abgeordneten sagten den Beamten prompt in seltener Einigkeit ihre Unterstützung zu. Währenddessen waren bereits Hunderte Polizisten in und um Jerusalem im Einsatz, Schilder abzuhängen, die zur Geschlechtertrennung aufrufen. Sie achteten in Bussen darauf, dass niemand eine Frau diskriminiert und nahmen eine ganze Reihe von ultraorthodoxen Juden fest. Gleichzeitig wurde Sigals Schützling, sieben Jahre alt und mit meterlanger Jugendamtsakte, auf Geheiß des Richters an einen Verwandten übergeben. Ob der die Auflage des Gerichts einhält, jeglichen Kontakt zu den Eltern zu unterbinden? »Niemand kann das sagen«, schätzt Sigal.
Denn der Junge und seine Familie sind Angehörige einer extrem orthodoxen jüdischen Sekte, lehnen den Staat Israel und seine Institutionen ab und leben abgeschottet in einem Jerusalemer Stadtteil, in den sich selbst die Mitarbeiter des Stromversorgers nur mit Polizeischutz wagen. »Selbst die Richter haben Angst«, klagt Sigal. »Diese Leute wollen die Dinge selbst regeln und reagieren äußerst gewalttätig, wenn jemand in ihren Lebensbereich eindringt. Hätte der Richter den Jungen ins Heim gesteckt, hätte es wahrscheinlich gewalttätige Proteste gegeben, was dann wiederum die Politiker auf den Plan gerufen hätte - am Ende wäre das Ergebnis das Gleiche gewesen.«
Es ist eine Situation, die selbst für viele ultraorthodoxe Juden inakzeptabel geworden ist. Da ist zum Beispiel Dov Lipman, ein ultraorthodoxer Rabbiner. Er hat die Proteste gegen religiösen Fanatismus in Beit Schemesch mit organisiert und dafür sogar eine PR-Agentur engagiert, die für ein möglichst großes Medienecho sorgen soll. »Das kann so nicht weitergehen«, sagt er. Auslöser für den Protest waren Berichte über ein achtjähriges Mädchen, das auf dem Schulweg von ultraorthodoxen Männern angespuckt worden war, weil es angeblich nicht züchtig genug gekleidet war. »Ja, in dieser Woche geht es um Diskriminierung, aber das Problem ist unbeschreiblich groß. Was manche unter dem Vorwand der Religion tun, hat keine Basis im Judentum«, so Lipman.
Israels Politik unterteilt die Bevölkerung in insgesamt vier sogenannte »Sektoren«: den säkularen, den russischen, den arabischen und den ultraorthodoxen Sektor. Und jeder einzelne davon unterteilt sich in eine Vielzahl von Weltanschauungen, Lebensstilen und Glaubensrichtungen - auch die Ultraorthodoxie. Sie besteht selbst aus Dutzenden Gruppierungen, deren oft stark auseinander gehende Ansichten von den jeweiligen Rabbinern festgelegt werden.
Das Dogma des Staates Israel sieht vor, dass alle nur dann in diesem Land leben können, wenn man den einzelnen Gruppierungen die größtmögliche Freiheit lässt und überdies den Staat an die Bedürfnisse des religiösesten Mitglieds der Bevölkerung anpasst. So ist es dazu gekommen, dass die Kantinen öffentlicher Einrichtungen koscher sind und am Samstag für alle jüdischen Israelis Arbeitsverbot herrscht. Das Problem: »Der religiöseste Israeli ist nicht mehr einfach nur religiös, sondern radikal«, erläutert Lipman. »Er hat sich seine Religion selbst zurecht gelegt und er fordert, dass alle in seinem Umfeld so leben wie er. Je mehr sich diese Menschen isolieren«, fürchtet der Rabbiner, »desto mehr sind sie dazu bereit, Gewalt anzuwenden.«
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