Gladiatoren der Lüfte
Mit Power und Poesie lädt der bezaubernde Roncalli-Circus ins Tempodrom
Schon beim Anmarsch auf das Tempodrom wird einem warm ums Herz. Aus einem Meer festlich illuminierter Weihnachtsbäume von der Erde bis zum Dachfirst ragt die hellgezackte Krone auf. Stellt man sich all das noch unter Schnee vor, ist der Zauber perfekt, den Roncalli bereits außen verbreitet. Drinnen in der Show wird der Eindruck noch weit übertroffen. Dabei heißt das diesjährige Programm zwischen den Jahren schlicht »Weihnachtscircus«. Ohne jeglichen Schnickschnack läuft es ab, ganz auf die Sinne der Zuschauer und ihr Bedürfnis nach Poesie abgestimmt.
Dafür ist Gründer und Direktor Bernhard Paul auf seiner Suche nach außergewöhnlichen Darbietungen erneut fündig geworden. Zwischen manegenhohen Christbäumen, unter einem gewaltigen Adventskranz überm Sitz des Orchesters, läuft Spitzenartistik, deren Sensationen sich stets in kleine Einlagen staunen machenden Theaters betten und so auf menschliches Maß zurückgeholt werden. Zirkus ist so mehr als fulminante Reihung akrobatischer Meisterleistungen: ein Gesamterlebnis für Herz und Hirn.
Beginnen lässt Regisseur Paul es mit der Schneekönigin, wie sie einem riesigen Geschenkpaket entsteigt und die Geschichte von den eingeschneiten Menschen erzählt, die beschließen, gemeinsam zu feiern. Was sich anschließt, wird auch Besucher überzeugen, die Tierdressuren nicht unbedingt mögen. Wolfgang Lauernburgers zehn Mischlingshunde apportieren, springen, klettern, drehen, walzen mit solcher Begeisterung und solchem Tempo, dass man sie einfach lieben muss. Gegen zu viel Tempo tritt dann Baldrian an, ein Schweizer Comedian der ganz anderen Art. Er entschleunigt, wo seine Kollegen auf die Tube drücken, jongliert gemütlich mit schwebenden Stäben und hat die Lacher auf seiner Seite, dirigiert im zweiten Teil des gut zweistündigen Abends seinen vielgliedrigen Drachen Gisela und gewinnt da alle restlichen Gäste.
Dann geht es zurück zur Geschwindigkeit, wenn die russische Truppe Sokolov ein Feuerwerk verschiedener Möglichkeiten des Seilspringens zeigt: kleine Seile in großen, große überkreuz oder im Karree geschwungen; gesprungen einbeinig, mit Salto, präsentiert all dies mit Elementen des Hip-Hop. Das spanische Geschwisterpaar Katie und Quinzy tut als Azzario Sisters, was gemischten Paaren vorbehalten schien: Äquilibristik Kopf-auf-Kopf, Hand-auf-Kopf, Fuß-auf-Kopf, als Höhepunkt im Gang eine Leiter hinauf und herab, umrahmt stets mit tänzerischem Furor. Das neutralisiert der Australier Rob Spence, zweiter Comedian im Programm, führt als lautmalender Holzfäller in knochenloser Pantomime zurück zum Lachen. Wie elegant die zwei ukrainischen Ex-Spitzensportler Dmitry und Olesia in »Flight of Passion« die Kunst des Fliegens an Strapaten beherrschen, bietet bewundernden Gesprächsstoff für die Pause.
Den zweiten Teil leitet der junge Brasilianer Fabricio Nogueira ein. In einem auch unten offenen Trichter aus verflochtenen Holzlatten fährt er Rad, selbst als sich seine Gondel in die Lüfte erhebt. Den Mann in Knickerbockers scheint das weniger zu ängstigen als die Zuschauer. Kaum zu überbieten ist die Rasanz, mit der der Engländer Jemile Martinez seine bis zu fünf Fußbälle jongliert, dabei den gesamten Körper einsetzt und sogar noch Pirouetten drehen kann. Baldrian fährt angenehm die Atemfrequenz im Saal wieder herunter. Die Beruhigung währt indes nicht lange, hat er doch nicht mit der Truppe Sokolov gerechnet. Was die Artisten in Kasak und Pluderhose an waghalsigen Sprüngen auf dem Schleuderbrett vollführen, dürfte weltweit unübertroffen sein. Die Flieger landen nicht nur im Zwei-Mann-Hoch auf den Füßen, sondern auch im Handstand, die Frauen sogar im Spagat. Phänomenal auch der Sprung auf Stelzen!
Roncalli wäre nicht von Bernhard Paul konzipiert, gäbe es nicht zwischen jenen Bravournummern besinnliche Momente, die Schneekönigin Doris, Assistentin Penelope und die Schneeflocken einbringen. Zu bunten Papierschlangen aus dem Olymp, Schnee aus der Kanone feiern die Saalgäste im Defilee die Circus-Gladiatoren in Roncallis funkelnder Manege.
Bis 3.1., Tempodrom
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