Links, wo das Herz ... weh tut
Theaterregisseur Claus Peymann, Direktor des Berliner Ensembles, über Revolutionen, Büchner, Haarrisse und Träume in Pappkulissen
nd: Claus Peymann, welche Rolle spielt der Begriff der Revolution in Ihrem Leben?
Peymann: Er ist wie ein Licht.
Eine Sternschnuppe? Wie in manch junger Existenz, die einen radikalen Ausdruck für ihre Unzufriedenheit sucht?
Nein, man kann schon vom ausdauernden Leuchtfaden sprechen.
Sie sind aber nicht Revolutionär, sondern stilsicherer Bürger geworden.
Das Problem ist kein stilistisches. Auf die zwanghaften Entscheidungsfragen, die der kritische Geist stellt, antwortete auch die linke Weltanschauung, antwortete die Geschichte der linken Idee leider stets mit abstoßenden Lösungen - Lösungen nämlich, mit denen man alle Fragen, von denen diese Geschichte doch erst hervorgebracht wurde, feige umging, frech verbot, böse verfolgte, kalt abwürgte.
Aber anfangs: ein Glühen.
Seit meiner Schulzeit habe ich alle Möglichkeitsformen des Revolutionärs durchfantasiert, war junger Kommunist - im aggressiven Abnabelungsprozess gegen meinen Vater, der NSDAP-Mitglied war -, fühlte mich als junger Anarchist. Theoretisch jedenfalls. Bis dann in den sechziger Jahren in der Bundesrepublik jene Phase eintrat, in der man als Student ergriffen wurde von tatsächlicher gesellschaftlicher Veränderung.
Marxist wurden Sie nicht.
Um Himmels Willen! Meine Leidenschaft für Links war stets gepaart mit einer Gabe für die skeptische Beobachtung sowohl der Geschichte als auch der Gegenwart. Zur Geburtsstunde der russischen Revolution - nicht erst unter Stalin, schon unter Lenin - gehörte der Terror, gehörte die Diktatur einer Kaderpartei. Im Westen sahen wir schaudernd die Moskauhörigkeit des Ostens. Und bereits die Französische Revolution lehrte, dass die ersehnten Umstürzler von heute die Diktatoren von morgen sind. Und weil wir uns über Büchner unterhalten: Als abschreckendes Beispiel für den geistigen Zustand des Parteikommunismus im Osten blieb mir immer ein Gastspiel des Bochumer Schauspiels in Moskau in Erinnerung. Wir spielten »Leonce und Lena«, ein Stück, das sich über Hierarchien lustig macht. Ermutigt durch Wodkaströme, gestand uns später der Simultanübersetzer, dass er sämtliche antihierarchischen Passagen Büchners mit völlig falschen Texten belegt hatte. Die russische Rüpelmethode gegen den wahren Geist.
Revolutionen, als großes Augenblicksereignis - sie schienen stets etwas Leichtes zu sein, aber dann …
Leicht? Wir Deutschen haben nie wirklich eine Revolution zustande gebracht. Aber witzig ist, dass wir mit »Dantons Tod« über das einzig nennenswerte Theaterstück über die Französische Revolution verfügen. Die Franzosen haben keines - wenn die sich mit 1789 und den Folgen befassen, spielen sie den deutschen Dichter Büchner. Die hatten die Revolution, wir haben das Revolutionsstück. Man kann eben nicht alles haben.
Es ist eher ein Stück über die Konterrevolution, die Erstarrung.
Ja, das blieb in der Geschichte immer die zentrale Frage: Was geschieht, wenn die Köpfe der Reaktion gerollt sind, wenn die Monarchen oder Zaren oder Militärdiktatoren oder Generalsekretäre davongejagt wurden.
Wenn die Revolutionäre gesiegt haben, endete mit diesem Sieg die Revolution.
Das ist die bittere Erfahrung, und derzeit genügt dafür ein Blick in den Nahen Osten. Was wird in Iran geschehen, was eines Tages in Kuba oder Nordkorea? Im Stück wird gesagt, die Revolution müsse aufhören, die Republik beginnen. Gut gesagt, aber stets setzte in den Trümmern der alten Welt der große Fantasiemangel an: Was jetzt? Und stets bot sich nur das alte Instrument an: Machtsicherung mit allen Mitteln. Nie wuchs aus erfolgreicher Empörung wahre Freiheit, meist nur wieder eine empörende Herrschaft.
Sie haben mal gesagt, ein Anhänger von Fidel Castro zu sein.
Ich bin es noch immer, so wie ich ein Anhänger Mao tse Tungs war. Aber ich bin es im Bewusstsein der Tragik, dass auf den Denkmalsockeln am Ende leider nur noch Betongestalten stehen. Verzweifelte, komische, ratlose Figuren in der Zwickmühle der Geschichte: Es gibt kein Zurück, aber auch kein Vorwärts. Der - hoffentlich nur zeitweilige - Ausfall der sozialistischen Utopie jedenfalls macht allen, die eine bessere Welt wollen, arg zu schaffen.
Also rät die Geschichte, so wie sie jetzt läuft, sich einzurichten im Gemäßigten.
Büchners Stück heißt nicht »Danton«, sondern »Dantons Tod«. Es zeigt das Schicksal der Unentschiedenen, deren Kräfte nachlassen. Das erscheint mir wie eine Mahnung: sich nicht einzurichten!
Aber Sie, Herr Peymann, wissen auch nicht, wie es weitergehen soll mit Zorn und Unmut.
Ich lehne trotzdem die Überlebensstrategien ab, die mir andauernd suggeriert werden: Zynismus, Coolness, Egozentrismus. Und möge niemand unterschätzen, wie schnell etwas umschlagen kann. Wenn man sich die gegenwärtige ökonomische und politische Krise anschaut, diesen unglaublichen Moralverlust auf so vielen Ebenen - das kann einem Angst machen und zugleich Mut. Früher hieß es, nur die Idioten gehen zum Militär, längst scheinen auch in die Politik einzig nur die Idioten hineinzustapfen. Das kann nicht endlos gutgehen. Ein wirtschaftlicher Zusammenbruch, gepaart mit vollständiger Inkompetenz der Verantwortlichen, das vermag ein friedliches Westeuropa sehr schnell in ein Pulverfass zu verwandeln.
Sie sprachen vom Verlust der Utopie.
Der ist unbestreitbar. Deshalb fühle ich mich als Theatermacher in der glücklichen Situation, den Beruf eines Träumers ausüben zu dürfen. Die Kunst erzählt doch von Utopien, sie sind unser Stoff. Wir gehen mit tollen Fantasien an die Öffentlichkeit. Peter Handke hat sogar die Vorstellung, es könne nach der gescheiterten Demokratie vielleicht eine neue Art von Königtum entstehen. Solche Gedanken sind in der Kunst möglich und nötig. Poesie rettet die Welt in den Traum, ohne den sie nicht auszuhalten wäre.
Sie machen im Gespräch den Eindruck, als litten Sie an der Notwendigkeit, dass eine Revolution zuvörderst zerstören muss.
Ja. Jede Revolution muss das Alte vernichten, das Privilegierte, die ungerechte Verteilung. Aber sie zerstört damit stets auch Kultur, Erhabenheit, Ästhetik, das Schöne. Proletarische Grobheit war in der Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht zu vermeiden, aber sie beflügelte Intelligenzfeindlichkeit, Rohheit gegenüber der Poesie und einen kulturlosen Pragmatismus. Da liegt eine schreckliche Dialektik vor, die vielleicht nie zu einer Lösung kommen kann.
Wäre Büchner in unserer Zeit ein Terrorist geworden?
Gut möglich. Den »Danton« hat er verfasst und ist danach sofort - wie wir heute sagen würden - in den Untergrund gegangen. Er wurde steckbrieflich zunächst in Hessen und dann in ganz Deutschland gesucht, er schaute ja in Europa von jeder Litfaßsäule, wie weiland Andreas Baader oder Ulrike Meinhof. Ein hochgefährdeter, höchst gefährlicher Bursche. Er war ein absoluter Anarcho-Revolutionär, quasi von der Staatssicherheit, vom FBI oder vom BND wegen staatsgefährdender Propaganda gesucht. Faszinierend ist, was dieses 23-jährige Genie über das Leben weiß, wie außerordentlich tief dieses Stück »Dantons Tod« gefühlt ist, dieses Wissen über Liebe und Verzweiflung - die gesamte menschliche Natur ist erfasst, alle Arten von modernem Zweifel, modernem Überdruss. Berückend, welche Frauengestalten er im »Danton« schuf, Schwestern gleichsam von Gretchen und von Käthchen oder von Luise. Umwerfend.
Sie, der Theatermann, träumen - und das Volk, wie Brecht sagte, vergleicht die Käsepreise.
Alle Revolutionäre irrten sich leidenschaftlich in der Beurteilung des Volkes. '68 sind wir hin zu den Opel-Arbeitern in Frankfurt, um sie agitierend auf unsere Seite zu ziehen. Die jagten uns zum Teufel. Die waren froh, einen Job zu haben. Die waren glücklich entfremdet. Wer sich heute als Partei für Arbeit einsetzt, tut Gutes, aber er setzt sich immer auch für die Festigung der kapitalistischen Entfremdung ein. Toller Widerspruch. Wieder bin ich froh, dass ich weit weg und nur der Märchenonkel bin, der hier am schwarzen Ufer der Spree sein Unwesen in Pappkulissen treiben darf.
Die schöne Verantwortungslosigkeit!
Verantwortungslos? Nicht ganz. Die Wachheit für das Bedrohliche, für das Unrecht und die Ungerechtigkeit, die sollte Kunst schon schüren. Sie ist Solidarität mit Schwachen und Angriff auf die Mächtigen - freilich mit nur momentan wirkenden Mitteln der Übertreibung, des Spiels. Es gibt keine große Kunst, die den Mächtigen huldigt! Auf der Bühne können wir durchspielen, was sich vor den Türen des Theaters sofort verbietet. »Wo Gewalt herrscht, hilft nur Gewalt«, sagt Brechts »Heilige Johanna der Schlachthöfe«. Schärfer ist das Prinzip der RAF nicht zu formulieren.
Liegt in solchen Spreng-Sätzen das Politische des Theaters?
Das wär zu wenig. Politisch am Theater ist sein Grundcharakter: Menschen treffen aufeinander und reagieren - unterschiedlich, aber doch gemeinsam - auf etwas, das ihnen vorgespielt wird. Klar, hinterher sind sie wieder Spießer, Alkoholiker, Nazis, Kinderschänder. Aber der heilige Moment des Innehaltens entspricht dem katholischen »Augenblick der Wandlung«. Vielleicht bleiben Haarrisse im Beton der Seele. Haarrisse sind die Chance der Kunst.
Ist »Dantons Tod« das Stück Ihrer Generation?
Ja. Wir sind gleichsam die Revolutionäre, die ins Establishment flohen. Wir rauschten, mit revolutionären Parolen auf den Lippen, in die Karrieren, an die Spitze von Ministerien, Rundfunkanstalten, Verlagen, Theatern. Der Schwung war zugleich Ausdruck der natürlichen Ermüdung. Ich mache mir da keine Illusionen.
Zitat Peymann: »Wir haben im Grunde alle Schlachten verloren.«
Wir sind Gebrochene.
Das heißt?
Wir haben dem Phlegmatismus den Boden bereitet. Gucken Sie sich die Alt-Grünen und die Neu-Grünen an. Die einen: verkiffte Romantiker längst abgehalfterter Protestspektakel, die anderen: cleveres, gestyltes Marketing im landläufigen Politgeschäft.
Und die Intellektuellen?
Es ist seltsam, dass sich bei einigen meiner Generationsgenossen ein mythischer, dunkler, antiaufklärerischer Klang ins Denken mischt. Rückgewendete Utopien sind in Deutschland einige Male verdammt schiefgegangen.
Demokratie macht weich für Bündnisse. Verdirbt sie den Charakter?
Je älter ich werde, desto mehr wachsen meine Zweifel an der inzwischen vollständig degenerierten Demokratie. Ich bin aufgewachsen als ein Kind des Faschismus und habe dann die Demokratie geradezu aufgesogen, ich halte sie theoretisch für die bislang günstigste Form gesellschaftlichen Zusammenlebens. Aber der Citoyen wurde im Lobbyismus jener Partikulärinteressen, die sich an Gier gegenseitig übertreffen, total aufgerieben. Wir leben in einem katastrophal niveaulosen Selbstbedienungsladen, geführt von Politikern, die längst an der Kette derer hecheln, die mit diesem Zustand die dicke Knete verdienen.
In Talkshows streitet man sich, hinterher geht’s gemeinsam ans Büffet.
Ich nie. Ich geh mit keinem dieser Polit-Kasper an irgendein Büffet. Ich streite mich und bin mit allen verfeindet.
Würden Sie sich noch als links bezeichnen?
Ja, schon aus Opposition zur rechten Majorität in diesem Land. Ich bin stolz, Linker zu sein. Links ist da, wo das Herz schlägt - und weh tut.
Interview: Hans-Dieter Schütt
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