Lebensretter in der Hölle von Stalingrad
Die Westukraine aber verehrt heute andere Helden
Anisim Moisenko hat jedes Zeitgefühl verloren. Unter seinen Füßen gefriert Blut auf dem festgetretenen Boden der drei mal vier Meter großen Grube, die Rotarmisten mit Spaten in die vereiste Erde gehackt haben, 1,5 Meter tief. Darauf warfen sie Balken und Blech.
Die Grube - der Operationssaal. Aus Patronenhülsen qualmt und flackert es als Funzelersatz. Moisenko hat gerade wieder ein Bein abgenommen, von Schrapnells zerfetztes Fleisch. Vor ihm liegt ein Soldat mit dem Gesicht eines Kindes. Schreit sich die Seele aus dem Leib. Bald wird die Ohnmacht kommen, weiß Moisenko. Morphium kann er schon lange niemandem mehr spritzen. Stattdessen flößen sie den Verwundeten Wodka ein. Es hilft nicht viel.
Praktikum in der Schlacht
Keine 23 Jahre ist Anisim Moisenko, ein junger Hauptmann mit gerade abgeschlossenem Medizinstudium. Geübt hatte er vor Stalingrad an Puppen. Praxis erlangt der junge Mann inmitten der Hölle: bis zu 20 Operationen am Tag. Moisenko sägt, schneidet und näht wie ein Roboter. Nichts denken, nichts fühlen, nur arbeiten, operieren. Bis die letzte Energie verbraucht ist, bis die Müdigkeit selbst die Kälte vergessen lässt, die Detonationen und das Brüllen der Artillerie.
Der Frontarzt steht schon seit Wochen an dem grob gehauenen Tisch und versucht zu retten, was sich der Tod meist schon kurz darauf doch holt. Am Ufer der Wolga liegen die Verwundeten und die Operierten, die darauf warten, mit kleinen Flößen auf die andere Seite des Flusses gebracht zu werden, wo die Rote Armee wieder Herr über ein Trümmermeer ist. Sind die Verwundeten noch in der Lage, selbst zu paddeln, steigt die Überlebenschance. Aber mehr als eine Chance hat niemand. Oft kostet die Wartezeit schon das Leben.
»Stalingrad, das war die Entscheidung. Das war uns allen bewusst. Wir mussten die Faschisten stoppen, sofort«, sagt der 91-Jährige heute in seiner Altbauwohnung im Zentrum des westukrainischen Lviv, wo er seit Jahrzehnten lebt. Mit all den Orden an der Wand und der Schirmmütze der Sowjetarmee auf der Anrichte.
Für Moisenko ein Wunder
Im Januar 1943 war die drei mal vier Meter große Grube sein Schlachtfeld. Und bald erkannte er, dass die »Faschisten«, wie die deutschen Soldaten genannt wurden, im Schmerz genauso nach ihrer Mutter, nach ihrer Frau, nach ihrem Mädchen schrien wie die Soldaten, die seine Uniform trugen. Sie hatten die gleiche Angst in den Augen, die gleiche Furcht vor dem Tod. Die Furcht der Deutschen war sogar noch größer, weil sie nicht wussten, ob sie ihm, Anisim Moisenko, trauen konnten. Sie befanden sich schutzlos in der Hand des Feindes. Der Militärarzt konnte ein wenig Deutsch: »Keine Angst, Kamerad«, sagte er den Landsern. Dann kam nicht selten die Säge.
»Es war furchtbar zu sehen, wie wertlos ein Menschenleben geworden war. Ich hätte verrückt werden können. Es fiel nicht leicht, Hoffnung zu bewahren«, erinnert er sich. Und erzählt dann doch davon, wie er das Leben sah.
»Genosse Arzt«, sprach ihn da ein Rotarmist an. Ein junger Kerl, mit dreckverschmiertem Gesicht unterm Stahlhelm. »Genosse, draußen, im Niemandsland, liegt eine Verwundete, schreit um Hilfe.« Im Dunkeln zogen Moisenko und der Soldat los. Sie brauchten lange. Jedes Mal, wenn eine Leuchtrakete in den Himmel zischte, drückten sie sich fest auf den Boden. Die Frau lag in einem Erdloch und schrie schon nicht mehr. Moisenko sah ihre blauen Lippen. Er hörte nicht einmal mehr ihr Herz. Aber das des Kindes. Die Wehen begannen. Mitten in der eisigen Nacht entbanden sie. »Als das Kind da war, geschrien hat, da kam die Mutter wieder zu Bewusstsein. Das ist für mich ein Wunder«, sagt der 91-Jährige.
Ein kalter Wintermorgen Anfang Januar 1943 brach an. Zu spät, um hinter die Frontlinie zurückzukehren. Überall Scharfschützen, die auf alles schossen, was sich bewegte. Und so legten sich die beiden Rotarmisten nahe an die Mutter und ihr Kind, um beide vor dem scharfen Wind zu schützen. Die Kälte fraß sich durch den gefütterten Mantel, biss sich ins Fleisch. »Mein Gott, ich hatte immer Angst, Mutter und Kind sterben in dieser verfluchten Eiseskälte«, erinnert sich Moisenko. Als es die Dunkelheit zuließ, zog er seinen Mantel aus, bettete die Frau mit dem Neugeborenen darauf. Zusammen schleiften die beiden Soldaten sie über den vereisten Boden in Richtung ihrer Linie. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit.
»Ich habe nie erfahren, was aus dem Baby und seiner Mutter geworden ist. Aber allein dass sie die Strapazen überlebt haben, das hat mir Mut gegeben. Ob sie lebendig aus Stalingrad gekommen sind? So geschwächt, der Fluss, das Feuer der Deutschen...«, der Veteran blickt traurig.
»So war das eben«
Und blickt auf die Orden, die einen Ehrenplatz an der Wand gefunden haben. Samt den jährlichen Grußkarten der Kommunistischen Partei der Ukraine an die Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges. Stramme Krieger blicken da siegesbewusst vom dünnen Karton. Auf einem Quadratmeter Wandfläche lebt bei Moisenko die Sowjetunion ruhmreich fort. Leninbild inklusive und einen gusseisernen Stalin. Stalin?
Wenn es um seine Meinung zu Stalin geht, packt der 91-Jährige kurzerhand den Text einer Rede Churchills über den einstigen Staatschef aus und kommentiert ihn knapp: »Er hat Geschichte geschrieben. So war das eben. Auch wenn ich seine Grausamkeit nicht schönreden will.«
Die hätte ihn fast selbst das Leben gekostet, damals in Stalingrad. Die Deutschen hatten nach den Kämpfen ein halbes Dutzend Kettenfahrzeuge zurückgelassen. Moisenko stand am OP-Tisch, als ein Offizier in seine Grube kletterte. »Du kannst Auto fahren?«, herrschte er den Arzt an. Moisenko nickte und wollte weiter operieren, da schob ihn der andere schon zur Leiter: »Weiter, los, wir haben keine Zeit zu verlieren.« Moisenko eilte mit dem Offizier zu den Kettenfahrzeugen, doch die hatten kein Lenkrad, stattdessen zwei Hebel. »Genosse, ich habe keine Ahnung, wie man so ein Gerät fährt«, sagte der Militärarzt. »Steckst du mit Faschisten unter einer Decke? Bring das Fahrzeug zum Fahren oder ich lass dich gleich hier erschießen«, kläffte ihn dafür der Offizier an.
Moisenko kannte den Typ von Menschenschindern, die ihre eigenen Leute erschießen, wenn sie sie nur für feig halten. »Irgendwie hab ich es geschafft, die Fahrzeuge zum Laufen zu bringen. Ich war wirklich weit und breit der einzige, der ein Auto lenken konnte. Und während ich mühsam mit den Kettenfahrzeugen fuhr, starben die Verwundeten, die ich nicht operieren konnte.«
Es ist die letzte Geschichte aus Stalingrad, die Anisim Moisenko erzählen will. Die Zeitreise kostet ihn Kraft. Doch eine Fahrt zur Gedenkstätte von Lviv darf nicht fehlen. Ein in Stahl gegossener Rotarmist ragt in den kalten Himmel. Moisenko zieht sein Jackett mit den Orden fürs Foto zurecht. Früher nahm er immer an den Veranstaltungen zum 9. Mai teil, wenn des Sieges über Hitlerdeutschland gedacht wurde. Doch vor drei Jahren warfen ihn ukrainische Nationalisten dabei zu Boden.
In Lviv hat man neue, alte Helden gefunden. Stepan Bandera und seine Leute, die zuerst mit den Nazis gegen die Sowjetarmee kämpften und später gegen beide Armeen einen Partisanenkampf für eine unabhängige Ukraine führten. An Massenmorden an Juden und politischen Gegnern sollen sie beteiligt gewesen sein, schreiben Historiker. In Lviv wischen das viele einfach weg. Selbst der neue Flughafen soll nach Bandera benannt werden. In der Stadt steht jetzt ein monumentales Bandera-Denkmal. Im Sommer sieht man Jugendliche mit T-Shirts »Banderastadt«. Auf dem Boulevard steht meist ein Stand der Partei »Swoboda« (Freiheit). Lviv gilt als Hochburg der Rechtsnationalen.
Die neuen Idole
»Ruhm der Ukraine« ist das Kennwort, um vorbei an einem Türsteher in Nationalistenuniform in ein stets gut besuchtes Themen-Restaurant zu gelangen. In historischen Kellergewölben hängen die Fahnen der Bandera-Partisanen und alte Fotos grimmiger Kämpfer. Ein Stalingradveteran ist in Lviv heute für die Mehrheit allenfalls ein Held zweiter Klasse. Wenn überhaupt. Der Sturz damals hat Moisenko geschmerzt. Er ging nie mehr zur Veranstaltung am 9. Mai.
»Jetzt muss ich arbeiten gehen«, sagt er. Trotz seines hohen Alters gibt er als Gerichtsmediziner noch seine Expertisen. Bei einer Messerstecherei ist ein junger Mann gestorben. »Was für Zeiten und was für eine Verschwendung von Leben«, brummt Moisenko und zieht die Jacke mit den Orden wieder aus.
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