»Schünemann abschieben«
Verletzte und Festnahmen bei Protesten gegen Niedersachsens Innenminister
Umgestürzte und zerschlagene Tische, zerrissene Transparente und Flugblätter, zerbeulte Plastikflaschen. Einem »Schlachtfeld«, wie eine Studentin erschrocken äußert, gleicht der Eingangsbereich vor dem Hörsaal 008 der Universität Göttingen am Dienstagabend zwar nicht unbedingt. Doch der Müll, die Papierfetzen und einige liegen gebliebene Kleidungsstücke zeugen von den vorausgegangenen Turbulenzen. Eine gute Stunde lang hatten linke Demonstranten, Ordner und Polizisten heftig um die Vorherrschaft an den Türen zu dem Raum gerangelt, bis ein massiver Einsatz der Beamten die Protestierenden schließlich zurücktrieb. Es gab Festnahmen und Verletzte.
Die Handgreiflichkeiten waren die Begleitmusik zu einem Besuch von Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU) an der Hochschule. Ihn und den Göttinger Polizeipräsidenten Robert Kruse hatte der unionsnahe Studentenverband RCDS zu einer Podiumsdiskussion über »Sicherheit in Niedersachsen, Sicherheit in Göttingen« eingeladen.
Der Termin rief schon im Vorfeld Reaktionen hervor. Schünemann und Kruse betonten immer wieder die Gefährlichkeit von Linksextremisten, »während sie in ihrer Bewertung rechter Gewalt mindestens auf einem Auge blind zu sein scheinen«, bemängelte etwa die Antifaschistische Linke International (ALI). Regelmäßig liste der Landes-Verfassungsschutz - Kruses ehemaliger Arbeitgeber - Göttingen als »Zentrum linksextremistischer Gewalt« auf, was auch Schünemann gerne wörtlich zitiere. »Neonazis, die sich bewaffnen, sind demgegenüber für den Innenminister offensichtlich kein Problem«, befand die ALI und rief für Dienstagabend zu einem »Blockadetraining« auf.
Die Gesellschaft für bedrohte Völker erklärte mit Blick auf Schünemann, die bisher übliche »hartherzige« niedersächsische Flüchtlingspolitik schrecke nicht davor zurück, »Menschen in Nacht- und Nebelaktionen zu deportieren, selbst das Kirchenasyl zu kriminalisieren und auch Härtefälle nicht zu verschonen«. Und die Grüne Jugend freute sich vorab auf eine Erklärung des Ministers, »wie er in diesem Jahre dem Bayern Herrmann den Ehrentitel des Abschiebeministers zu entreißen gedenkt«.
Am frühen Abend gleicht der Campus einer Polizeifestung. Dutzende Mannschaftswagen stehen vor dem Hörsaalgebäude und den nahe gelegenen Studentenwohnheimen. Kleine Gruppen von Demonstranten ziehen mit Spottplakaten (»Schünemann Jugend Niedersachsen - SJN«) und Parolen rufend (»Gegen Linke, Dreck und Schmutz - Heimatschutz, Heimatschutz«) durch das Foyer. Der für die Veranstaltung angekündigte Raum ist von der Polizei besetzt. Gleichzeitig lotsen RCDS- und Security-Leute ausgewählte Zuhörer nach Gesichtskontrollen in einen benachbarten Hörsaal. Als sich Demonstranten dort zu einer Blockade formiert haben, sind Schünemann und Kruse von Beamten und Unibediensteten bereits durch einen Eingang im Obergeschoss in den Saal geleitet worden.
»Die wehrhafte Demokratie muss Extremismus aller Art bekämpfen«, ruft der CDU-Politiker unter dem Beifall seiner Anhänger ins Mikrofon. Keinesfalls dürften Politik und Sicherheitsbehörden unter dem Eindruck rechten Terrors die Augen vor linksextremistischer und islamistischer Gewalt verschließen. Sabotageaktionen gegen die Bahn, brennende Autos in Berlin, ein - tatsächlich noch gar nicht aufgeklärter - Brandanschlag auf das Göttinger Gerichtsgebäude seien Beweise für links-motivierte Gewalt.
Einige Linke, die trotz der Kontrollen in den Saal gelangt sind, ziehen durch Zwischenrufe die Aufmerksamkeit des RCDS-Moderators auf sich. Per Fingerzeig weist er die Securities an, die »Störer« rauszuwerfen - was dann auch unter dem Jubel und Füßestampfen vieler Zuhörer geschieht. Draußen an den Türen rangeln inzwischen Blockierer und Beamte immer heftiger. »Schünemann abschieben« und »Polizei raus aus der Uni«, donnern Sprechchöre durch das Gebäude. Die »Schünemann Jugend Deutschland« intoniert »U - U - Uwe«-Sprechchöre, einige Autonome skandieren »Union, Union, Sowjetunion.« Zwischen Transparenten und Plakaten, die Schünemanns Politik anprangern, ist auch ein Konterfei von PKK-Chef Özalan auszumachen.
Immer mehr Polizisten stürmen ins Getümmel, drängen die Menge gegen einen Treppenaufgang. Einige Beamte schlagen mit Fäusten gezielt in Gesichter und zerren Demonstranten an den Haaren. Augenzeugen beobachten auch Schlagstockeinsätze. Mehrere Protestierer werden verletzt, zwei vorläufig festgenommen, auch bei der Polizei soll es einige leicht verletzte Beamte geben.
Grüne Jugend und ALI kritisierten gestern den Polizeieinsatz. »Dass friedlich demonstrierende Studierende in ihrer Universität zusammengeschlagen werden, ist ein nicht haltbarer Zustand«, so eine Sprecherin des Jugendverbandes. Die ALI prangerte den »brachialen Einsatz« von Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten (BFE) in der Hochschule an. Für die verletzten Studierenden müsse die Universitätsleitung die Verantwortung übernehmen.
»Ich konnte selbst sehen, dass Polizeikräfte mit Anlauf und in voller Montur ohne Rücksicht Leute umrannten, wegschubsten, um offensichtlich Eingänge zum Saal zu besetzen«, sagte der Göttinger Landtagsabgeordnete der LINKEN, Patrick Humke. Er kündigte ein »parlamentarisches Nachspiel« an. Der RCDS verurteilte erwartungsgemäß die Proteste. »Das Vorgehen der Störer und Blockierer offenbart ihr gestörtes Verhältnis zur Meinungsfreiheit«, befand der Bundesvorsitzende Frederik Ferreau.
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