In aller Deutlichkeit - vor aller Augen

Gerhard Schoenberner über eine Beratung deutscher Bürokraten und den Genozid an den Juden

  • Lesedauer: 4 Min.
Dr. h.c. Gerhard Schoenberner, Jg. 1931, war Gründungsdirektor der 1992 eröffneten Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz und ist wissenschaftlicher Berater der »Topographie des Terrors« in Berlin. Seine Dokumentationen »Der Gelbe Stern« und »Zeugen sagen aus« sind Standardwerke. Mit dem Historiker und Publizisten sprach Karlen Vesper.
In der Cafeteria der Gedenkstätte: Kulisse für das Dokumentartheater im Haus der Wannsee-Konferenz
In der Cafeteria der Gedenkstätte: Kulisse für das Dokumentartheater im Haus der Wannsee-Konferenz

nd: Herr Schoenberner, vor 70 Jahren fand die berüchtigte Wannsee-Konferenz statt. Erst seit 20 Jahren gibt es im ehemaligen Tagungsort eine Gedenkstätte.
Schoenberner: Man muss manchmal einen langen Atem haben.

War es Unwille? Für ein Dokumentationszentrum in jener Villa hatte sich als Erster Joseph Wulf, ein Auschwitz-Überlebender engagiert, der 1974 Suizid beging.
Wir waren eine kleine Initiativgruppe von fünf Personen, die sich ab Mitte der 60er Jahre um eine solche Einrichtung am Ort des Geschehens bemühten. Wulf hatte eine Meldung aufgeschreckt, wonach die Westberliner Polizei in die Villa Am Großen Wannsee einziehen wollte, in Nachfolge von Heydrichs Reichssicherheitshauptamt, dem das Haus mit Park gehört hatte. Wir fanden breite Unterstützung. Die Liste der Mitglieder des aus dem Kreis hervorgehenden Vereins und des Kuratoriums liest sich wie ein internationales »Who is Who«. Wir hatten die Zusagen aller großen jüdischen und vieler historischen Institute. Doch in der Zeit des Kalten Krieges fehlte es sowohl an Verständnis wie an politischem Interesse dafür.

Gemeinhin wird die so genannte Wannsee-Konferenz als der Auftakt zur nazistischen »Endlösung der Judenfrage« gedeutet. Das stimmt allerdings nicht.
Zunächst: Die Teilnehmer hatten keine Kompetenz, Beschlüsse zu fassen. Zweitens: Die »Endlösung« hatte faktisch im besetzten Polen und in den okkupierten Gebieten der Sowjetunion und - wenn wir von Deportationen sprechen - auch in Deutschland bereits begonnen. Aber, und das ist wichtig: Auf dieser Konferenz erfolgte die erste offizielle Bekanntgabe eines an höherem Orte gefassten Beschlusses und die Besprechung seiner praktischen Durchführung. Gleichzeitig markiert die Konferenz eine historische Zäsur, denn das erklärte Ziel der Vorkriegszeit bestand darin, Deutschland durch erzwungene Auswanderung »judenrein« zu machen. Nach der Eroberung großer Teile Europas stellte sich aber das »Problem« für die Nazis erneut und in noch größerem Umfang, da sich nun noch mehr jüdische Menschen in ihrem Machtbereich befanden. Und schließlich: Mit dem Ergebnisprotokoll der Konferenz liegt zum ersten Mal ein Gesamtplan für den Genozid an den Juden vor, in dem die Mordabsicht trotz der verwendeten Tarnsprache in einer Deutlichkeit ausgesprochen wird, wie in keinem anderen Dokument.

Was nicht im Protokoll steht und nach wie vor nicht recht zur Kenntnis genommen wird: Der Völkermord an den europäischen Juden war nur die erste Stufe eines weit größeren Plans zur »rassenpolitischen Neuordnung Europas«. Ich spreche vom »Generalplan Ost«, der den Tod von 30 bis 50 Millionen Slawen vorsah. Ich bin froh, dass die wissenschaftliche Konferenz am Wochenende den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, das zweite große Jahrhundertverbrechen mit einer noch weit größeren Zahl von Opfern, und die Wannsee-Konferenz zueinander in Beziehung setzt.

Das Vergessen der Verbrechen an den slawischen Völkern war auch Folge des Kalten Krieges?
Tatsächlich gab es eine merkwürdige Arbeitsteilung zwischen den beiden deutschen Staaten, jeder hatte seine eigene Klientel. Die Bundesrepublik hat Entschädigungszahlungen an Israel geleistet und die DDR Reparationen an die Sowjetunion.

Stimmt es, dass bis zur Wannsee-Konferenz bereits fast eine Million Juden ermordet waren?
Das ist richtig. Doch die Massenerschießungen waren nach Ansicht der Nazis nicht effizient genug. Zweitens bestand die große Gefahr, dass sich diese Massaker nicht geheim halten ließen, weder unter der einheimischen Bevölkerung noch bei den Alliierten. Und drittens wurde die psychische Belastung für die Erschießungskommandos zum Problem, die sich ja nicht alle aus ausgebildeten Mördern rekrutierten. So suchte man nach anderen Lösungen, die man dann schrittweise auch fand. Effizienz im Sinne der Mörder wurde eigentlich erst in den Todesfabriken von Auschwitz-Birkenau erreicht, wo man zunächst - was oft vergessen wird - an sowjetischen Kriegsgefangenen die ersten Probevergasungen mit Zyklon B durchführte. Hier erreicht der Völkermord seine industrielle Dimension.

Umstritten ist, ob es einen direkten Befehl Hitlers zur »Endlösung« gab. Was sagen Sie?
Hitler hat als Staatsoberhaupt eine schriftliche Festlegung, genauso wie bei der sogenannten
»Euthanasie«, wohlweislich vermieden. Aber das besagt gar nichts. In wenigstens fünf öffentlichen Reden zwischen 1939 und 1942 spricht er immer wieder von der »Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa«. Und die Deportation der jüdischen Nachbarn, die am helllichten Tag in Kolonnen durch die Straßen zu den Bahnhöfen geführt wurden, konnte jeder sehen. Es geschah vor aller Augen.

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