Ansichten eines Aliens
»2012 Planet paradox« bei den Stachelschweinen erklärt die Welt aus Sicht von Besuchern
Da haben sie wieder einmal zusammengetragen, wo die irdische Karre im Dreck steckt. Für ihr 70. Programm seit Gründung 1949 haben die Stachelschweine weder Kosten noch Mühe gescheut und deshalb Außerirdische eingeflogen. Die landen in friedlicher Forschungsmission auf der Erde: Für die Planung des Projekts Milchstraße 21 im interstellaren Fernverkehr erkunden sie die Wesen auf jenem Planeten und kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus. »2012 Planet paradox« lautet daher ihr Fazit und auch die neue Feuerwaffe der Stachelschweine gegen Missstände aller Art. Von goldhelmbewehrten Astronauten verwandeln sich Birgit Edenharter und Kristin Wolf, Jan Felski, Holger Güttersberger und Detlef Neuhaus in Erdenbewohner, die uns vorführen, wo wir falsch handeln. Dieter Nelle inszenierte nach Ralf Linus Hökes Idee knapp 20 Beiträge aus der Feder von sieben Autoren. Karin Wilpert baute dafür, barock inspiriert, ein Prisma als Szene: Mit seinen leicht drehbaren drei Seiten assoziiert es Strand, Bürohaus, Einkaufsmeile. Dahin eben verschlägt es die Akteure.
Als Investmentbanker führen sie vor, wie man Aktien abstößt, bis Firmen pleite sind, um dann wieder billig zu kaufen. Hiebe gibt’s auch wider unbotmäßige frühkindliche Förderung, deren Folgen dann der Therapeut auszubaden hat, und unverständliche Festlegung der Mehrwertsteuer: Isst der Kunde gleich neben dem Bauchladen, kann das teurer werden, als wenn er sich entfernt. Personifiziert stört ein Bundestrojaner beim Sex, schürt auch noch Eifersucht mit tödlichem Ausgang: Für eben diese innere Sicherheit braucht der Staat seine Trojaner. Was man bei stark übertriebenem Tierschutz überhaupt noch essen darf, wie man als Serverfarmer gut lebt und was passiert, wenn einem nur noch per Computer verkehrenden Ehepaar das Netz ausfällt, wird gefragt.
Manche Idee wirkt etwas harmlos in diesem ersten Teil, Text und Umsetzung erinnern eher, den Titel eines früheren Programms aufgreifend, an ein Land des Schwächelns. Lediglich ein Sketch hat auch verbale Schärfe, wie man sie in scharfen Zeiten von politischem Kabarett erwarten darf. Um die vorformulierte Rede des Außenministers in China geht es da und um Beschönigen jeder kritischen Bemerkung, jetzt, da der gelbe Riese die klamme EU stützen will.
Entschieden zupackender gerät der Teil nach der Pause. Über der Menschen Religion sinnieren die Aliens: Saturn heiße der Gott, verkaufe in großen Tempeln Hausaltäre, durch deren Scheibe Gott verkünde, Geiz sei geil. In einer weiteren Kultstätte vollziehe man ein Fruchtbarkeitsritual, jage einem weiblichen Ei in Form eines Balls nach. In anderen Anbetungsbauten reden Männer in schwarzer Kleidung auf leere Bänke ein. Wie Ratingagenturen funktionieren, erklärt stellvertretend »Moody’s«: Um billiger Urlaub zu machen, wird Italien abgewertet; die Konkurrenz setzt gar zum Entscheid, welches Land folgen soll, Mäuse ein, die man durch Käse manipuliert.
Politischen Lug und Trug entlarven Dementi, von Ulbrichts Mauerbau über Clintons Sexaffäre bis zu Guttenbergs Doktorlapsus. Wahlversprechen sollten heißen: wohl versprochen; die derzeit rauchenden Köpfe in der FDP bedeuten allenfalls Strohfeuer. Bis in den Zynismus, auch er wohlfeile Zutat im Kabarett, steigern sich die finalen Sketche. Mallorca-Urlauber fühlen sich gestört von Bootsflüchtlingen, an denen sogar ein NATO-Schiff tatenlos vorbeifährt: Lieber tote Quallen im Meer als tote Tunesier. Handfeuerwaffen für Libyen benennt die Firma findig um in schwäbische Zauberstäbe mit Knalleffekt, Landminen sind nun Furzkissen, die einen vor Lachen zerreißen. Schließlich kurble man die Wirtschaft auch etwa in Somalia an: Ärzte, Bestatter haben Hochkonjunktur. Und Berlins Autozündler gründen die AG Straßenbeleuchtung, bei der man marode Autos gegen Bezahlung zur Illumination der Nacht abgeben kann. Ein Feuer muss durch Deutschland gehen, wird ein bundespräsidiales Wort uminterpretiert.
Dass die Aliens trotz aller Katastrophen letztlich den Planeten nicht sprengen lassen, lenkt die Schärfe ins Gutmütige. Mit welcher Bandbreite im Spiel wiederum Birgit Edenharter aufwartet, wertet den paradoxen Abend zusätzlich auf: Delirierende Internet-Braut ist sie, berührende Asylantin mit Abschiebungsbescheid, dann schnoddrige Polizistin.
Bis 28.1., auch Februar, Stachelschweine im Europa-Center, Tauentzienstr. 9-12, Charlottenburg, Kartentelefon (030) 261 47 95, Infos: www.diestachelschweine.de
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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