Sanierungsfall Karl-Marx-Straße

Neuköllns Hauptstraße galt lange als »Ramschmeile« - nun soll sie grundlegend umgestaltet werden

  • Sonja Vogel
  • Lesedauer: 5 Min.
»Niedrige Aufenthaltsqualität«? – Die Karl-Marx-Straße soll attraktiver werden.
»Niedrige Aufenthaltsqualität«? – Die Karl-Marx-Straße soll attraktiver werden.

Für die Karl-Marx-Straße begann das neue Jahr nicht gut. Bereits in der zweiten Januarwoche schloss das große Warenhaus C&A - ein Traditionshaus, das 1953 nahe dem Rathaus eröffnet hatte. Der dreistöckige Bau im Neuköllner Zentrum steht nun leer - ein Bild, wie es dem Klischee Neuköllns entspricht. Direkt gegenüber, in der Karl-Marx-Straße 92-98, befindet sich ein großes Einkaufszentrum mit Glasfassade, das erst 2010 eröffnet wurde. Zuvor war das ehemalige Hertie-Warenhaus für rund 70 Millionen Euro aufwendig entkernt worden. Neben Lebensmittelmärkten und Modegeschäften beherbergt es ein Fitnessstudio. Vor wenigen Tagen nun zog einer der repräsentativen Mieter aus. »Es gibt schon einen Nachmieter«, versichert Horst Evertz, der sich als Sanierungsbeauftragter der Brandenburgischen Stadterneuerungsgesellschaft (BSG) für den Senat um die Straße kümmert.

Dunkel bleibt es indes auch in nächster Zukunft im unter Denkmalschutz stehenden ehemaligen Hauptpost. Der Prunkbau aus dem 19. Jahrhundert steht bereits seit acht Jahren leer. Zwar ist das Gebäude jüngst verkauft worden. Was mit den 6000 Quadratmetern Nutzfläche passieren soll, ist dennoch unklar: Hotels, Wohnungen, Ausstellungsfläche? Alles ist möglich. Ein Nutzungskonzept gibt es bisher zwar nicht. Evertz aber hat klare Vorstellungen: »Wir favorisieren eine kulturelle Nutzung, aber die alleine ist nicht wirtschaftlich«.

Was die Zukunft der Hauptstraße angeht, ist er optimistisch. »Der Karl-Marx-Straße hing mal der Ruf an, die zweite oder dritte Geige in Berlin zu spielen - dies ist heute nicht mehr der Fall.« Die Straße habe Defizite, wozu auch die Entwicklung von den Fachgeschäften hin zu Ketten beigetragen habe. Die Neuköllner Hauptstraße ist Versorgungs- und Verwaltungszentrum und Wohngebiet. in einem. Ein schwieriger Mix, um eine Straße attraktiv zu machen. »Es fehlt ein weiteres Standbein«, sagt Evertz. Eine reine Geschäftsmeile könne die Karl-Marx-Straße nicht bleiben.

Im vergangenen Jahr legte der Senat sieben Sanierungsgebiete fest. Darunter auch jenes zwischen Hermannplatz und S-Bahnhof Neukölln sowie ein angrenzendes Areal zwischen Sonnenallee und Kanal bis zur Pannierstraße - 26 000 Einwohner leben dort. Vier Jahre lang wurde die Gegend unter die Lupe genommen. Das Ergebnis: infrastrukturelle Mängel, hohe Lärm- und Schadstoffbelastung und geringe Wohnqualität. Für die Karl-Marx-Straße bedeutet das im Behördensprech eine »niedrige Aufenthaltsqualität«. Dieses Problem sieht auch Evertz. »Es fehlt an öffentlichem Raum«, sagt er. Der Sanierungsplan sieht darum vor, Freiflächen wie den Platz der Stadt Hof und den Karl-Marx-Platz - bisher leer und ohne Sitzgelegenheit - auszubauen. Gehwege sollen verbreitert, Bäume gepflanzt und die Fahrbahn zu Gunsten von Radwegen zurückgebaut werden. »Die Karl-Marx-Straße wird durchgängig einspurig«, betont Evertz. Wohin der Verkehr ausweichen soll, ist indes fraglich. Auch auf der parallel verlaufenden Sonnenallee staut es sich täglich. Insgesamt 15 Jahre soll der Umbau dauern. 55 Millionen Euro hat die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung für die Sanierung veranschlagt.

Noch ist von der »neuen« Karl-Marx-Straße nicht viel zu sehen. Zwar wird seit Monaten am S- und U-Bahnhof Neukölln gebaut - Fußgängerübergänge und Gehwege wurden erneuert -, die Straßenfläche aber wurde nicht verknappt. Ab 2014 soll es am Karl-Marx-Platz weitergehen, die Sanierungsarbeiten werden dann Stück für Stück weiter in Richtung Hermannplatz wandern.

Im Rahmen des Sanierungsprogramms wurde auch »Aktion! Karl-Marx-Straße« gegründet - eine Initiative, die seit 2008 Bezirk, Planungsämter und lokale Akteure wie Händler zusammenbringt. Finanziert wird sie von Bund, Land und Bezirk. Susann Liepe von »Aktion!« verweist auf die Schwierigkeit, ein Gesamtkonzept für die Karl-Marx-Straße zu entwickeln. »Wir arbeiten uns in Teilstücken vor«, sagt sie. Neben dem Einzelhandel hat sie vor allem die Kreativszene im Blick, die es seit Jahren nach Neukölln zieht. »Wir versuchen, hier Modedesigner unterzubringen«, sagt Liepe. »Langfristig könnte man sich einen Kreativstandort zwischen Handel und Kunstraum vorstellen.« Als Testballon soll dafür ein Ladengeschäft angemietet werden. Viel Auswahl gibt es da zur Zeit nicht.

Vierteljährlich wertet die Initiative den Leerstand aus, um die Mischung der Geschäftsstraße zu beeinflussen. »Wir haben überhaupt kein Leerstandsproblem«, erklärt Evertz. »Das Mietniveau unterschiedet sich kaum von dem der Schloßstraße.« Neben großen Ketten wie Mediamarkt oder Hugendubel läuft vor allem preisgünstige Mode - von Glitzer-Highheels bis zu Baggyhosen von Picaldi -, wie sie Ladengeschäfte rund um den U-Bahnhof Karl-Marx-Straße anbieten. Noch immer dominieren Handy- und Internetshops, Kioske, türkische, arabische, chinesische, indische und russische Geschäfte mit spezifischem Angebot - immerhin haben rund 40 Prozent der Nordneuköllner nichtdeutsche Wurzeln. Mit einem Standardentwicklungsmodell an den Karl-Marx-Kiez heranzugehen, sei darum problematisch. »Die Geschäfte werden hier anders gemacht«, sagt Evertz.

Einige Neuköllner sehen die Sanierung durchaus kritisch. Kiez-aktivisten befürchten, dass Kultur nur vermarktet und zu einem »Standortfaktor« für Neukölln gemacht werden soll - mit Folgen für die nun in der Karl-Marx-Straße ansässigen Geschäfte und die Bevölkerungsmischung. Unbegründet sind die Ängste nicht, denn mit steigender Attraktivität des Bezirks steigen auch die Mietpreise.


Neukölln: Vom Sorgenkind zum Trendbezirk?

Neukölln gilt als arm. Von 315 000 Neuköllnern sind 79 000 beim Jobcenter gemeldet. Immer mehr Einkommensschwache ziehen indes aus Neukölln in die Außenbezirke - Zahlen der Jobcenter belegen die Wanderungsbewegung. Zwangsumzüge, ausgelöst durch das Überschreiten der vom Jobcenter festgesetzten Mietobergrenze, häufen sich. Grund dafür sind steigende Mieten. Besonders betroffen sind Nichtdeutsche - im Sanierungsgebiet immerhin 41 Prozent der Einwohner.

2007 begann sich der Bezirk zu verändern: Bars und Kneipen eröffneten entlang der Weserstraße. Nach prekär Beschäftigten zog es Studierende in den neuen Trendbezirk. 2010 wuchs die Bevölkerung im Bezirk um 3900 Menschen (1,3 Prozent); nach Mitte war Neukölln damit Spitzenreiter (Verband der Berlin-Brandenburgischen Wohnungsbauunternehmen - BBU). Die Neuvertragsmieten stiegen in Neukölln seit 2009 sprunghaft um 13,7 Prozent an (Immobilienverband Deutschland - IVD).

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