Was beim Holocaust-Gedenken fehlte

  • Jürgen Reents
  • Lesedauer: 2 Min.

In leisen, bewegenden Worten hat Marcel Reich-Ranicki am Freitag in der Gedenkstunde des Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus an den 22. Juli 1942 erinnert: an jenen Tag, als die SS mit der »Umsiedlung« der Juden aus Warschau begann - ihrer Deportation in das Vernichtungslager Treblinka. Täglich bis zu 12 000 Menschen wurden in den folgenden Wochen in die Gaskammern transportiert. Am Ende waren es Hunderttausende, nahezu eine halbe Million, allein aus Warschau.

Organisator der »Auflösung« des Warschauer Gettos war der SS-Sturmbannführer Hermann Höfle. Er besaß die Perfidie, den »Judenrat« mit der Zusammenstellung der täglichen Deportationslisten zu beauftragen. Reich-Ranicki zitierte vor dem Bundestag, was Höfle ihm als Protokollanten der jüdischen Getto-Verwaltung diktierte: »Am heutigen Tag beginnt die Umsiedlung der Juden aus Warschau. Es ist euch ja bekannt, dass es hier zu viel Juden gibt. Euch, den ›Judenrat‹, beauftrage ich mit dieser Aktion. Wird sie genau durchgeführt, dann werden auch die Geiseln wieder freigelassen, andernfalls werdet ihr alle aufgeknüpft, dort drüben.«

Als Reich-Ranicki seine Rede beendete, wurde er vom Bundespräsidenten auf seinen Platz zurückgeleitet. Nach der Stille, vor Ausklang der Gedenkstunde wäre eine Gelegenheit für den Bundes- oder den Bundestagspräsidenten gewesen, noch etwas anzufügen. Es hätte etwa so lauten können:

»Der SS-Offizier Hermann Höfle, über den Marcel Reich-Ranicki sprach, wurde nach 1945 für zwei Jahre von der britischen Militärbehörde interniert. Er lebte dann in Österreich, Italien und der Bundesrepublik Deutschland, bevor er sich 1962 selbst das Leben nahm. Höfle gehört zu den ungezählten, Tausenden oder Zehntausenden Vollstreckern des Nazi-Regimes, die in der Bundesrepublik Deutschland für ihre grausamen Taten nie belangt wurden. Wir gedenken dieser Schuld mit später Scham.«

Vierzig Jahre nach 1945 hatte es gedauert, bis der höchste Repräsentant unseres Landes, Bundespräsident Richard von Weizsäcker, das Ende des deutschen Faschismus nicht mehr einen Zusammenbruch, sondern eine Befreiung nannte. Wäre eine weitere Generation später die Zeit nicht endlich reif, vom höchsten Parlamentssitz aus zu bekunden, wie sehr die Bundesrepublik Deutschland mit der Aufarbeitung und Vergeltung der Verbrechen des Nazi-Regimes versagt hat?

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