Vom europäischen Sozialstaat so viel wie möglich verteidigen
Rudolf Meidner, deutscher Emigrant und Mitbegründer des schwedischen Modells, im ND-Gespräch
Der Ökonom Rudolf Meidner, einer der Vordenker des schwedischen Modells, ist auch der Vater des weitestreichenden Reformprojekts der skandinavischen Sozialdemokratie - der nach ihm benannten kollektiven Arbeitnehmerfonds (löntagerfonderna). 1914 in einer jüdischen Familie in Breslau geboren, erlebte er in Berlin den Reichstagsbrand und emigrierte nach Schweden. Hier war der Sozialdemokrat Jahrzehnte lang führender Ökonom der Gewerkschaften. Unter den zahlreichen Büchern, die Meidner veröffentlichte, ist auch das ins Deutsche übertragene Werk »Modell Schweden. Erfahrungen einer Wohlstandsgesellschaft« (mit Anna Hedborg). Nach ihm ist auch ein Preis für junge Wirtschaftshistoriker benannt.
In der großen Auseinandersetzung um die EU-Mitgliedschaft Schwedens gehörte Meidner zu den Gegnern eines Anschlusses. Offen für vieles Neue, nahm er an der Gründungsversammlung von ATTAC Schweden teil.
Begonnen hat dies alles u.a. mit der legendären »Weltbühne« und Kurt Tucholsky...
ND: Sie waren etliche Male in Ihrem Leben in Berlin, zuletzt hatte Kurt Tucholsky Sie hierher geführt.
Tucholsky habe ich immer sehr geschätzt, als radikalen Pazifisten und Antimilitaristen - »Mit 5 PS« gehörte schon früh zu meinen Lieblingsbüchern. Ich selbst war als junger Mensch Pan-Europäer - doch als Erwachsener bin ich kein Freund der Europäischen Union.
ND: Tucholsky sympathisierte ebenfalls mit der pan-europäischen Bewegung.
Das wusste ich nicht. Ich bilde mir ein, Tucholsky wäre ein erbitterter EU-Gegner geworden.
ND: Warum?
Vermutlich aus den gleichen Gründen, wie ich es lange war. Weil die EU eine marktwirtschaftliche Institution ist, die sich jeder Form ökonomischer und sozialer Planung widersetzt. Jedenfalls - mit 15, 16 Jahren habe ich sehr pan-europäisch gedacht.
ND: Frühe Beschäftigung mit Politik - Einflüsse des Elternhauses?
Nein. Meine Mutter hatte allerdings eine Buchhandlung, in der sie u.a. die »Weltbühne« vertrieb, und auf die kleinen roten Hefte habe ich mich geradezu gestürzt.
ND: Tucholsky kam auf seiner Lesereise 1929 auch nach Breslau.
Ich bin ihm nicht begegnet, Ernst Toller dagegen kam sogar in unser Gymnasium. Ich war begeistert von ihm.
Nach dem Abitur schrieb ich mich im Herbst 1932 zum Jurastudium an der Berliner Universität ein - jene Lehranstalt, in deren Eingangshalle noch immer die Marxschen Worte in großen Buchstaben an der Wand zu lesen sind, nach denen es nicht darauf ankommt, die Welt zu interpretieren, sondern sie zu verändern. Das wurde nach der deutschen Vereinigung nicht heruntergerissen, das hat mich sehr gefreut. Komisch, dass man das so belassen hat - ist ja heutzutage beinahe ein Aufruf zum Landesverrat.
ND: Hatten Sie sich damals irgendwelchen politischen Gruppen angeschlossen?
In Breslau gab es eine Gruppe Sozialistischer Schüler, in der ich aktiv war. Unter dem Eindruck der Auseinandersetzungen im Lande spaltete sie sich in eine sozialdemokratische und eine kommunistische Gruppe. Ich habe der kommunistischen angehört - allerdings nicht als Parteimitglied, das war keiner von uns.
ND: Wie haben Sie das Jahr 1933 erlebt?
Den Reichstagsbrand sah ich aus nächster Nähe. Wir hatten ein Fest in der Krolloper. Als wir auf die Straße gingen, in einer Pause, ungefähr 22, 23 Uhr, da brannte der Reichstag. Wir glaubten zuerst, das wäre eine Illumination. Aber dann kam, reichlich spät, die Feuerwehr. Doch eigenartig - wir gingen nach Hause, ohne uns bewusst zu sein, dass dies das Ende einer Epoche war.
ND: Sie haben dann mit Ihrer Mutter Deutschland verlassen?
Nicht mit meiner Mutter, sie glaubte, das geht vorbei - ich aber war bereits Ende März in Schweden.
ND: Wieso ausgerechnet Schweden?
Ich hatte einen Onkel, Ministerialrat in der preußischen Regierung. Der war Schweden-Enthusiast. Und ich hatte selbst ein Faible für Skandinavien. Kurzum, ich entschied mich für Schweden.
ND: Haben Sie diese Wahl jemals bereut?
Nein. In Stockholm habe ich dann Nationalökonomie studiert - eine eigenartige Wissenschaft, wenn man überhaupt sagen kann, dass es eine Wissenschaft ist. Das sieht man immer, wenn die Ökonomen heute ihre Prognosen zum Besten geben. Sie erklären das eine Mal, sie würden wunderbar sein, und nach ein, zwei Jahren wissen sie ganz genau, warum es anders gekommen ist. Das ist ihre Stärke.
ND: War Gunnar Myrdal, der spätere Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, unter Ihren Dozenten?
Ja, er war mein erster Lehrer. Er ist vielleicht außerhalb Schwedens populärer als bei uns. Die Bürgerlichen haben ihm sehr übel genommen, dass er nach dem Kriege als Handelsminister der Sowjetunion einen großen Kredit geben wollte.
ND: Hat Gunnar Myrdal Sie auch mit den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie »verkuppelt«?
Naja, er war Mitbegründer der Abteilung des schwedischen Gewerkschaftsbundes LO für Wirtschaftsforschung, die ich dann von 1945 bis 1966 leitete. Als ich nach fünf Jahren an der Universität dorthin zurückkehrte, war einer meiner ersten Aufträge, Varianten für die Bildung eines Arbeitnehmerfonds zu untersuchen.
ND: Wie entstand die Idee für das Meidner-Modell, das alsbald das schwedische Kapital und die Bürgerparteien des Landes auf die Palme brachte?
Das war eigentlich eine deutsche Idee, und unsere Fonds waren denen sehr ähnlich, die der Deutschen Gewerkschaftsbund 1972 beschloss und die auch von der SPD akzeptiert worden sind. Aber daraus wurde nichts. Die Sozialdemokraten koalierten mit den Freien Demokraten und die Liberalen wollten natürlich keine kollektiven Arbeitnehmerfonds. Und heute will in der Bundesrepublik keiner mehr etwas davon wissen.
ND: Warum wollten die schwedischen Gewerkschaften unbedingt solche Fonds?
Mitbestimmung nach schwedischen Gesetzen bedeutet nicht, dass man irgendetwas bestimmt, sondern lediglich, dass man über alles verhandeln kann. Aber die Entscheidungen treffen stets die Arbeitgeber. Wir sehen ja heute, wie ein schwedisches Unternehmen nach dem anderen ins Ausland geht. Die Angestellten erfahren oft erst aus der Zeitung, was beschlossen wurde. Deshalb gab es bei den Gewerkschaften die Überlegung, dass man als Miteigentümer ein größeres Mitbestimmungsrecht erwerben könnte. Das war in gewisser Weise auch eine Machtfrage. Und das war nicht ganz in der schwedischen Tradition, die ja sehr reformistisch ist: Wir begrenzen die Befugnisse der Kapitalisten, aber nehmen ihnen nicht das Eigentum weg. Und das Provokative meines Vorschlages für kollektive Arbeitnehmerfonds lag eben darin, dass die Gewerkschaften über eine besondere Besteuerung der Unternehmen Eigentumsanteile und dadurch reale Mitbestimmungsrechte bekommen würden. Und tatsächlich beschloss der Gewerkschaftskongress 1976, auf die Schaffung solcher Arbeitnehmerfonds hinzuwirken.
ND: Drei Monate später verloren die Sozialdemokraten die Wahlen - waren die Fonds daran schuld, wie selbst einige Ihrer Parteifreunde noch heute behaupten?
Tatsächlich kam der Beschluss des Gewerkschaftskongresses der Sozialdemokratischen Partei sehr ungelegen. Gewerkschaften und Partei waren nicht vorbereitet. Die Partei war zwar nicht an den Gewerkschaftsbeschluss gebunden. Aber man wollte sich auch nicht von dem Gewerkschaftsprojekt distanzieren. Olof Palme wusste jedenfalls nicht, was er machen sollte, als die bürgerlichen Parteien eine riesige Kampagne gegen die Fonds starteten. Aber diese Wahlen - darauf deuten seriöse wissenschaftliche Untersuchungen hin - gingen mehr wegen des Kernkraftwiderstands als wegen der Fonds verloren.
ND: Am Ende war das größte Reformprojekt der schwedischen Nachkriegszeit grandios gescheitert?
Ganz so möchte ich das nicht sagen. Natürlich - es ist nicht das herausgekommen, was die Gewerkschaften erhofften. Man hat nach vielen schweren Diskussionen einen Kompromiss erarbeitet, der 1983, als die SAP wieder an die Regierung kam, zum Gesetz wurde. Fünf regionale Arbeitnehmerfonds wurden gebildet. Sie waren allerdings nur ein Schatten des ursprünglichen Vorschlags. Und als wieder eine bürgerliche Regierung kam, wurden sie abgeschafft.
ND: Wie stand Olof Palme zu den Fonds?
Er war immer dagegen, er wollte mehr ein Mitbestimmungsmodell nach deutschem Vorbild, paritätisch zusammengesetzte Aufsichtsräte und so etwas.
ND: Palme, Meidner - diese Namen sind auch eng mit dem schwedischen Modell einer betont sozialen Marktwirtschaft mit einem dichten sozialen Netz verbunden. Mache Kritiker sagen, es sei heute mausetot.
Das war ein Modell, das für einen Nationalstaat entwickelt wurde - passend für die 50er und 60er Jahre bis Anfang der 70er Jahre. Aber heute sind wir globalisiert. Doch mausetot ist das schwedische Modell nicht. Gewisse Grundzüge der Wohlfahrtspolitik, teilweise auch die solidarische Lohnpolitik der Gewerkschaften, sind noch vorhanden. Aber Schweden ist heute EU-Mitglied, das heißt also, dass wir keine eigene schwedische Finanz- und Wirtschaftspolitik mehr führen können, sondern uns der EU anpassen müssen - wobei die sozialen Vorzüge des schwedischen Modells immer weniger deutlich werden.
ND: Sie sind im Vorfeld des schwedischen EU-Referendums als resoluter EU-Gegner aufgetreten...
Ich habe damals zu denen gehört, die der Auffassung waren, dass wir versuchen sollten, so lange wie möglich eine eigenständige schwedische Politik zu führen. Dann aber sprach sich die schwedische Bevölkerung mit 52 zu 48 Prozent für den EU-Anschluss aus. Meine größten Bedenken galten der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik. Laut dem Maastrichter Unionsvertrag ist die Preisstabilität das Hauptziel, während von Vollbeschäftigung nicht die Rede ist - was aber für mich die Hauptsache ist. Diese Bedenken habe ich noch immer, auch wenn sich auf Initiative der skandinavischen EU-Mitglieder einiges zum Besseren gewendet hat. Doch gerade Deutschland ist ja ein Beispiel dafür, wie sich ein führendes EU-Land den Luxus einer Massenarbeitslosigkeit leistet und keinen besonders großen Willen erkennen lässt, dies zu ändern.
ND: Dem ersten Band Ihrer Biografie hat Autor Lars Ekdal den Titel »Mot en tredje väg« (Einem dritten Weg entgegen) gegeben. Sie selbst haben ebenso wie Palme und andere führende schwedische Sozialdemokraten die Ansicht vertreten, dass man einen Dritten Weg zwischen kapitalistischer Marktwirtschaft und osteuropäischer Planwirtschaft finden müsse. Was ist aus diesem Projekt geworden?
Die Marktwirtschaft hat einen derartigen Sieg davongetragen, dass von Planwirtschaft überhaupt nicht mehr die Rede ist. Es gibt heute in Europa praktisch keine politischen Kräfte mehr, die sich für eine Planwirtschaft einsetzen.
ND: Vor zwei Jahren haben Tony Blair und Gerhard Schröder einen anderen Dritten Weg verkündet - eine Wanderung zwischen traditionellen sozialdemokratischen Werten und dem Neoliberalismus.
Ich habe nicht so recht verstanden, was daran ein Dritter Weg sein sollte. Ich würde mir für weit reichende sozialdemokratische Projekte eher wünschen, dass die Grundsätze des ursprünglichen schwedischen Modells, also Vollbeschäftigung und soziale Wohlfahrt, betont werden und dass man sich auch für einen stärkeren Einfluss des Staates engagiert.
ND: Vielfach wird heute behauptet, die Gewerkschaften seien nur noch auf Bestandssicherung aus, keine gesellschaftsverändernde Kraft mehr.
In Schweden sind die Gewerkschaften immer noch eine bedeutende Kraft - wenn auch schwächer als früher. Jedenfalls setze ich nicht nur wegen meiner Biografie mehr auf die Gewerkschaften als auf die sozialdemokratische Partei. Da wirken bei mir auch noch Jugenderfahrungen mit der deutschen Sozialdemokratie nach, mit Braun, Severing, Noske oder Zörgiebel.
Freilich, die Sozialdemokraten in Schweden haben nichts mit solchen Namen zu tun, sie stehen weiter links als die deutschen. Und sie sind ja auch eher bereit, mit den ehemaligen Kommunisten, der Linkspartei, zusammenzuarbeiten als dies in Deutschland der Fall ist.
ND: Schwedens Sozialdemokraten haben in den vergangenen vier Jahren auf der Basis einer festen Vereinbarung parlamentarisch mit der Linkspartei und den Grünen kooperiert. Glauben Sie an eine Fortsetzung dieser Zusammenarbeit?
Das kommt auf den Wahlausgang am 15. September an. Jetzt sieht es so aus, als ob die Sozialdemokraten recht gut abschneiden würden mit klassischen 42, 43 Prozent. Das heißt, dass ein Teil der Wählerschaft, den sie an die Linkspartei verloren hat in den Jahren der sehr harten Stabilisierungspolitik, wieder zurückkehrt. Deshalb ist heute nicht mehr die Rede davon, dass die Linkspartei 15 Prozent oder mehr bekommen könnte, sondern vielleicht 10, 11 Prozent. Das gäbe ihr keine besonders starke Position. Aber dennoch - die Sozialdemokraten brauchen die Linkspartei als Stützpartei, wobei sich die SAP-Führung offenbar auch parlamentarische Unterstützung durch eine bürgerlichen Partei vorstellen kann. Wie es weitergeht, hängt also ganz wesentlich vom Wahlresultat ab.
ND: Einige Politikerinnen und Politiker der Linkspartei haben auch über eine Regierungskoalition mit den Sozialdemokraten nachgedacht.
Eine solche Linkskoalition wird es in Schweden eher nicht geben. Ministerpräsident Göran Persson hat das bereits abgelehnt.
ND: Aber - braucht eine sozialdemokratische Regierung gerade in sozialen Angelegenheiten nicht Druck von links?
Durchaus. Die Linkspartei - viele von ihnen ehemalige linke Sozialdemokraten - steht für diese Fragen besonders ein. Druck von links auf eine sozialdemokratische Regierung, das schadet nichts - im Gegenteil. Das kann sehr wertvoll sein.
ND: Die legendären Meidner-Fonds - glauben Sie, dass es in Zukunft erneut eine Chance geben wird für ein ähnliches oder noch tief greifenderes Reformprojekt?
Ja, in etwa 25 Jahren.
ND: Wie kommen Sie auf diese Zahl?
Es bedarf mindestens des Zeitraumes einer Generation - erst wenn es mit der derzeitigen Variante der Marktwirtschaft so schief geht, dass die Menschen verstehen, dass es nicht der richtige Weg ist, werden sich neue Perspektiven öffnen. Und wir haben ja schon die Anfänge einer Kritik an der Marktwirtschaft - die Antiglobalisierungsbewegung.
ND: Haben Sie Sympathien für ATTAC?
Ich habe an der Gründungsversammlung von ATTAC Schweden teilgenommen - 1200 Menschen waren gekommen. Sie hatten das Gefühl, wir müssen irgendetwas tun, wir müssen uns der US-amerikanischen Globalisierung in irgend einer Form widersetzen. Aber das war alles sehr unkonkret. Und die Forderung nach einer Tobin-Steuer auf Spekulationsgewinne reicht nicht aus. Aber ich habe natürlich Sympathien für ATTAC - wenn auch die Bewegung jetzt in Schweden nicht mehr so mobilisierend auftritt.
ND: Eine der Hauptlosungen von ATTAC ist »Eine andere Welt ist möglich«...
...was ja sehr allgemein formuliert ist. Eine andere Welt ist sicher möglich. Gegenwärtig sehe ich eine Gefahr in der globalen Rolle der USA, in ihrer ungeheuren wirtschaftlichen und militärischen Dominanz. Die realsozialistischen Länder sind als politische Kraft nicht mehr vorhanden. Deshalb betrachte ich die EU trotz der unzureichenden Maastricht-Prinzipien als eine Art Gegengewicht zur totalen USA-Dominanz. Als Sozialist kann ich mit einer solchen Dominanz nicht zufrieden sein - was nicht gleichbedeutend mit Antiamerikanismus ist. Für mich heißt das alles: Wir müssen so viel wie möglich vom europäischen Sozialstaat verteidigen, von unseren Werten wie Solidarität und Wohlfahrt. Und, wie gesagt, in 25 Jahren sieht vielleicht alles anders aus.
Fragen: Jochen ReinertND: Sie waren etliche Male in Ihrem Leben in Berlin, zuletzt hatte Kurt Tucholsky Sie hierher geführt.
Tucholsky habe ich immer sehr geschätzt, als radikalen Pazifisten und Antimilitaristen - »Mit 5 PS« gehörte schon früh zu meinen Lieblingsbüchern. Ich selbst war als junger Mensch Pan-Europäer - doch als Erwachsener bin ich kein Freund der Europäischen Union.
ND: Tucholsky sympathisierte ebenfalls mit der pan-europäischen Bewegung.
Das wusste ich nicht. Ich bilde mir ein, Tucholsky wäre ein erbitterter EU-Gegner geworden.
ND: Warum?
Vermutlich aus den gleichen Gründen, wie ich es lange war. Weil die EU eine marktwirtschaftliche Institution ist, die sich jeder Form ökonomischer und sozialer Planung widersetzt. Jedenfalls - mit 15, 16 Jahren habe ich sehr pan-europäisch gedacht.
ND: Frühe Beschäftigung mit Politik - Einflüsse des Elternhauses?
Nein. Meine Mutter hatte allerdings eine Buchhandlung, in der sie u.a. die »Weltbühne« vertrieb, und auf die kleinen roten Hefte habe ich mich geradezu gestürzt.
ND: Tucholsky kam auf seiner Lesereise 1929 auch nach Breslau.
Ich bin ihm nicht begegnet, Ernst Toller dagegen kam sogar in unser Gymnasium. Ich war begeistert von ihm.
Nach dem Abitur schrieb ich mich im Herbst 1932 zum Jurastudium an der Berliner Universität ein - jene Lehranstalt, in deren Eingangshalle noch immer die Marxschen Worte in großen Buchstaben an der Wand zu lesen sind, nach denen es nicht darauf ankommt, die Welt zu interpretieren, sondern sie zu verändern. Das wurde nach der deutschen Vereinigung nicht heruntergerissen, das hat mich sehr gefreut. Komisch, dass man das so belassen hat - ist ja heutzutage beinahe ein Aufruf zum Landesverrat.
ND: Hatten Sie sich damals irgendwelchen politischen Gruppen angeschlossen?
In Breslau gab es eine Gruppe Sozialistischer Schüler, in der ich aktiv war. Unter dem Eindruck der Auseinandersetzungen im Lande spaltete sie sich in eine sozialdemokratische und eine kommunistische Gruppe. Ich habe der kommunistischen angehört - allerdings nicht als Parteimitglied, das war keiner von uns.
ND: Wie haben Sie das Jahr 1933 erlebt?
Den Reichstagsbrand sah ich aus nächster Nähe. Wir hatten ein Fest in der Krolloper. Als wir auf die Straße gingen, in einer Pause, ungefähr 22, 23 Uhr, da brannte der Reichstag. Wir glaubten zuerst, das wäre eine Illumination. Aber dann kam, reichlich spät, die Feuerwehr. Doch eigenartig - wir gingen nach Hause, ohne uns bewusst zu sein, dass dies das Ende einer Epoche war.
ND: Sie haben dann mit Ihrer Mutter Deutschland verlassen?
Nicht mit meiner Mutter, sie glaubte, das geht vorbei - ich aber war bereits Ende März in Schweden.
ND: Wieso ausgerechnet Schweden?
Ich hatte einen Onkel, Ministerialrat in der preußischen Regierung. Der war Schweden-Enthusiast. Und ich hatte selbst ein Faible für Skandinavien. Kurzum, ich entschied mich für Schweden.
ND: Haben Sie diese Wahl jemals bereut?
Nein. In Stockholm habe ich dann Nationalökonomie studiert - eine eigenartige Wissenschaft, wenn man überhaupt sagen kann, dass es eine Wissenschaft ist. Das sieht man immer, wenn die Ökonomen heute ihre Prognosen zum Besten geben. Sie erklären das eine Mal, sie würden wunderbar sein, und nach ein, zwei Jahren wissen sie ganz genau, warum es anders gekommen ist. Das ist ihre Stärke.
ND: War Gunnar Myrdal, der spätere Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, unter Ihren Dozenten?
Ja, er war mein erster Lehrer. Er ist vielleicht außerhalb Schwedens populärer als bei uns. Die Bürgerlichen haben ihm sehr übel genommen, dass er nach dem Kriege als Handelsminister der Sowjetunion einen großen Kredit geben wollte.
ND: Hat Gunnar Myrdal Sie auch mit den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie »verkuppelt«?
Naja, er war Mitbegründer der Abteilung des schwedischen Gewerkschaftsbundes LO für Wirtschaftsforschung, die ich dann von 1945 bis 1966 leitete. Als ich nach fünf Jahren an der Universität dorthin zurückkehrte, war einer meiner ersten Aufträge, Varianten für die Bildung eines Arbeitnehmerfonds zu untersuchen.
ND: Wie entstand die Idee für das Meidner-Modell, das alsbald das schwedische Kapital und die Bürgerparteien des Landes auf die Palme brachte?
Das war eigentlich eine deutsche Idee, und unsere Fonds waren denen sehr ähnlich, die der Deutschen Gewerkschaftsbund 1972 beschloss und die auch von der SPD akzeptiert worden sind. Aber daraus wurde nichts. Die Sozialdemokraten koalierten mit den Freien Demokraten und die Liberalen wollten natürlich keine kollektiven Arbeitnehmerfonds. Und heute will in der Bundesrepublik keiner mehr etwas davon wissen.
ND: Warum wollten die schwedischen Gewerkschaften unbedingt solche Fonds?
Mitbestimmung nach schwedischen Gesetzen bedeutet nicht, dass man irgendetwas bestimmt, sondern lediglich, dass man über alles verhandeln kann. Aber die Entscheidungen treffen stets die Arbeitgeber. Wir sehen ja heute, wie ein schwedisches Unternehmen nach dem anderen ins Ausland geht. Die Angestellten erfahren oft erst aus der Zeitung, was beschlossen wurde. Deshalb gab es bei den Gewerkschaften die Überlegung, dass man als Miteigentümer ein größeres Mitbestimmungsrecht erwerben könnte. Das war in gewisser Weise auch eine Machtfrage. Und das war nicht ganz in der schwedischen Tradition, die ja sehr reformistisch ist: Wir begrenzen die Befugnisse der Kapitalisten, aber nehmen ihnen nicht das Eigentum weg. Und das Provokative meines Vorschlages für kollektive Arbeitnehmerfonds lag eben darin, dass die Gewerkschaften über eine besondere Besteuerung der Unternehmen Eigentumsanteile und dadurch reale Mitbestimmungsrechte bekommen würden. Und tatsächlich beschloss der Gewerkschaftskongress 1976, auf die Schaffung solcher Arbeitnehmerfonds hinzuwirken.
ND: Drei Monate später verloren die Sozialdemokraten die Wahlen - waren die Fonds daran schuld, wie selbst einige Ihrer Parteifreunde noch heute behaupten?
Tatsächlich kam der Beschluss des Gewerkschaftskongresses der Sozialdemokratischen Partei sehr ungelegen. Gewerkschaften und Partei waren nicht vorbereitet. Die Partei war zwar nicht an den Gewerkschaftsbeschluss gebunden. Aber man wollte sich auch nicht von dem Gewerkschaftsprojekt distanzieren. Olof Palme wusste jedenfalls nicht, was er machen sollte, als die bürgerlichen Parteien eine riesige Kampagne gegen die Fonds starteten. Aber diese Wahlen - darauf deuten seriöse wissenschaftliche Untersuchungen hin - gingen mehr wegen des Kernkraftwiderstands als wegen der Fonds verloren.
ND: Am Ende war das größte Reformprojekt der schwedischen Nachkriegszeit grandios gescheitert?
Ganz so möchte ich das nicht sagen. Natürlich - es ist nicht das herausgekommen, was die Gewerkschaften erhofften. Man hat nach vielen schweren Diskussionen einen Kompromiss erarbeitet, der 1983, als die SAP wieder an die Regierung kam, zum Gesetz wurde. Fünf regionale Arbeitnehmerfonds wurden gebildet. Sie waren allerdings nur ein Schatten des ursprünglichen Vorschlags. Und als wieder eine bürgerliche Regierung kam, wurden sie abgeschafft.
ND: Wie stand Olof Palme zu den Fonds?
Er war immer dagegen, er wollte mehr ein Mitbestimmungsmodell nach deutschem Vorbild, paritätisch zusammengesetzte Aufsichtsräte und so etwas.
ND: Palme, Meidner - diese Namen sind auch eng mit dem schwedischen Modell einer betont sozialen Marktwirtschaft mit einem dichten sozialen Netz verbunden. Mache Kritiker sagen, es sei heute mausetot.
Das war ein Modell, das für einen Nationalstaat entwickelt wurde - passend für die 50er und 60er Jahre bis Anfang der 70er Jahre. Aber heute sind wir globalisiert. Doch mausetot ist das schwedische Modell nicht. Gewisse Grundzüge der Wohlfahrtspolitik, teilweise auch die solidarische Lohnpolitik der Gewerkschaften, sind noch vorhanden. Aber Schweden ist heute EU-Mitglied, das heißt also, dass wir keine eigene schwedische Finanz- und Wirtschaftspolitik mehr führen können, sondern uns der EU anpassen müssen - wobei die sozialen Vorzüge des schwedischen Modells immer weniger deutlich werden.
ND: Sie sind im Vorfeld des schwedischen EU-Referendums als resoluter EU-Gegner aufgetreten...
Ich habe damals zu denen gehört, die der Auffassung waren, dass wir versuchen sollten, so lange wie möglich eine eigenständige schwedische Politik zu führen. Dann aber sprach sich die schwedische Bevölkerung mit 52 zu 48 Prozent für den EU-Anschluss aus. Meine größten Bedenken galten der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik. Laut dem Maastrichter Unionsvertrag ist die Preisstabilität das Hauptziel, während von Vollbeschäftigung nicht die Rede ist - was aber für mich die Hauptsache ist. Diese Bedenken habe ich noch immer, auch wenn sich auf Initiative der skandinavischen EU-Mitglieder einiges zum Besseren gewendet hat. Doch gerade Deutschland ist ja ein Beispiel dafür, wie sich ein führendes EU-Land den Luxus einer Massenarbeitslosigkeit leistet und keinen besonders großen Willen erkennen lässt, dies zu ändern.
ND: Dem ersten Band Ihrer Biografie hat Autor Lars Ekdal den Titel »Mot en tredje väg« (Einem dritten Weg entgegen) gegeben. Sie selbst haben ebenso wie Palme und andere führende schwedische Sozialdemokraten die Ansicht vertreten, dass man einen Dritten Weg zwischen kapitalistischer Marktwirtschaft und osteuropäischer Planwirtschaft finden müsse. Was ist aus diesem Projekt geworden?
Die Marktwirtschaft hat einen derartigen Sieg davongetragen, dass von Planwirtschaft überhaupt nicht mehr die Rede ist. Es gibt heute in Europa praktisch keine politischen Kräfte mehr, die sich für eine Planwirtschaft einsetzen.
ND: Vor zwei Jahren haben Tony Blair und Gerhard Schröder einen anderen Dritten Weg verkündet - eine Wanderung zwischen traditionellen sozialdemokratischen Werten und dem Neoliberalismus.
Ich habe nicht so recht verstanden, was daran ein Dritter Weg sein sollte. Ich würde mir für weit reichende sozialdemokratische Projekte eher wünschen, dass die Grundsätze des ursprünglichen schwedischen Modells, also Vollbeschäftigung und soziale Wohlfahrt, betont werden und dass man sich auch für einen stärkeren Einfluss des Staates engagiert.
ND: Vielfach wird heute behauptet, die Gewerkschaften seien nur noch auf Bestandssicherung aus, keine gesellschaftsverändernde Kraft mehr.
In Schweden sind die Gewerkschaften immer noch eine bedeutende Kraft - wenn auch schwächer als früher. Jedenfalls setze ich nicht nur wegen meiner Biografie mehr auf die Gewerkschaften als auf die sozialdemokratische Partei. Da wirken bei mir auch noch Jugenderfahrungen mit der deutschen Sozialdemokratie nach, mit Braun, Severing, Noske oder Zörgiebel.
Freilich, die Sozialdemokraten in Schweden haben nichts mit solchen Namen zu tun, sie stehen weiter links als die deutschen. Und sie sind ja auch eher bereit, mit den ehemaligen Kommunisten, der Linkspartei, zusammenzuarbeiten als dies in Deutschland der Fall ist.
ND: Schwedens Sozialdemokraten haben in den vergangenen vier Jahren auf der Basis einer festen Vereinbarung parlamentarisch mit der Linkspartei und den Grünen kooperiert. Glauben Sie an eine Fortsetzung dieser Zusammenarbeit?
Das kommt auf den Wahlausgang am 15. September an. Jetzt sieht es so aus, als ob die Sozialdemokraten recht gut abschneiden würden mit klassischen 42, 43 Prozent. Das heißt, dass ein Teil der Wählerschaft, den sie an die Linkspartei verloren hat in den Jahren der sehr harten Stabilisierungspolitik, wieder zurückkehrt. Deshalb ist heute nicht mehr die Rede davon, dass die Linkspartei 15 Prozent oder mehr bekommen könnte, sondern vielleicht 10, 11 Prozent. Das gäbe ihr keine besonders starke Position. Aber dennoch - die Sozialdemokraten brauchen die Linkspartei als Stützpartei, wobei sich die SAP-Führung offenbar auch parlamentarische Unterstützung durch eine bürgerlichen Partei vorstellen kann. Wie es weitergeht, hängt also ganz wesentlich vom Wahlresultat ab.
ND: Einige Politikerinnen und Politiker der Linkspartei haben auch über eine Regierungskoalition mit den Sozialdemokraten nachgedacht.
Eine solche Linkskoalition wird es in Schweden eher nicht geben. Ministerpräsident Göran Persson hat das bereits abgelehnt.
ND: Aber - braucht eine sozialdemokratische Regierung gerade in sozialen Angelegenheiten nicht Druck von links?
Durchaus. Die Linkspartei - viele von ihnen ehemalige linke Sozialdemokraten - steht für diese Fragen besonders ein. Druck von links auf eine sozialdemokratische Regierung, das schadet nichts - im Gegenteil. Das kann sehr wertvoll sein.
ND: Die legendären Meidner-Fonds - glauben Sie, dass es in Zukunft erneut eine Chance geben wird für ein ähnliches oder noch tief greifenderes Reformprojekt?
Ja, in etwa 25 Jahren.
ND: Wie kommen Sie auf diese Zahl?
Es bedarf mindestens des Zeitraumes einer Generation - erst wenn es mit der derzeitigen Variante der Marktwirtschaft so schief geht, dass die Menschen verstehen, dass es nicht der richtige Weg ist, werden sich neue Perspektiven öffnen. Und wir haben ja schon die Anfänge einer Kritik an der Marktwirtschaft - die Antiglobalisierungsbewegung.
ND: Haben Sie Sympathien für ATTAC?
Ich habe an der Gründungsversammlung von ATTAC Schweden teilgenommen - 1200 Menschen waren gekommen. Sie hatten das Gefühl, wir müssen irgendetwas tun, wir müssen uns der US-amerikanischen Globalisierung in irgend einer Form widersetzen. Aber das war alles sehr unkonkret. Und die Forderung nach einer Tobin-Steuer auf Spekulationsgewinne reicht nicht aus. Aber ich habe natürlich Sympathien für ATTAC - wenn auch die Bewegung jetzt in Schweden nicht mehr so mobilisierend auftritt.
ND: Eine der Hauptlosungen von ATTAC ist »Eine andere Welt ist möglich«...
...was ja sehr allgemein formuliert ist. Eine andere Welt ist sicher möglich. Gegenwärtig sehe ich eine Gefahr in der globalen Rolle der USA, in ihrer ungeheuren wirtschaftlichen und militärischen Dominanz. Die realsozialistischen Länder sind als politische Kraft nicht mehr vorhanden. Deshalb betrachte ich die EU trotz der unzureichenden Maastricht-Prinzipien als eine Art Gegengewicht zur totalen USA-Dominanz. Als Sozialist kann ich mit einer solchen Dominanz nicht zufrieden sein - was nicht gleichbedeutend mit Antiamerikanismus ist. Für mich heißt das alles: Wir müssen so viel wie möglich vom europäischen Sozialstaat verteidigen, von unseren Werten wie Solidarität und Wohlfahrt. Und, wie gesagt, in 25 Jahren sieht vielleicht alles anders aus.
Fragen: Jochen Reinert
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