Der Mythos vom Bildermacher
Anmerkungen zur Chemnitzer Mattheuer-Retrospektive
Der Genugtuung, dass die Kunstsammlungen Chemnitz die andernorts nicht zu Stande gekommene Retrospektive des Bildermachers Wolfgang Mattheuer ermöglichten, ist die Erwartung beigemischt, endlich einmal das gesamte Spektrum Mattheuerscher Bildfindungen zu Gesicht zu bekommen. Aber: Fehlanzeige! Diese einmalige Chance wurde großteils zu Gunsten der »politischen Bilder« vertan. Und so haben wir ihn nun also wieder, »unseren Mattheuer«, den taktierend Aufmüpfigen, und ein wenig Wehmut überkommt mich denn doch, wenn ich mich erinnere, dass ich einige der »berühmten« Arbeiten damals durchaus auf- und anregend fand. Damals, als es auch in der Lyrik nur so von Prometheusen und Ikarusen wimmelte: Der Zeitgeist drapierte sich mit mythologischen Gewandungen, um in dieser Verkleidung seine Wahrheiten ungestraft verkünden zu können. Wer fragte da schon, ob die zusammengeramschten Gewänder passten!
Doch jetzt ist kein Grund mehr vorhanden, dem Künstler aus Dankbarkeit für seinen vermeintlichen Mut zu verschweigen, dass die Tragödie des Ikarus eigentlich in seinem Übermut begründet war, womit sich die Figur eben denkbar ungeeignet als Symbol für das »Streben und Scheitern« des Einzelnen erweist. Wer in dieser Geschichte Dädalos verschweigt oder nicht kennt, weil er sein Wissen über den Mythos secondhand erworben hat, muss sich schon gefallen lassen, dass man ihn der pseudointellektuellen Effekthascherei bezichtigt. Übertrieben? Da flüchtet zum Beispiel einer aus einem in Flammen stehendem Raum, in dessen Ecke etliche Werke Mattheuers rumstehen. Ins Ungewisse. Reste einer antiken Statue weisen ihm den Weg in die entgegengesetzte Richtung. Das Ganze heißt »Prometheus verläßt das (brennende) Theater«. »Bißchen nebulös, das mit dem Prometheus«, denke ich noch, da begegne ich dem Bild wieder. Es heißt nunmehr »Geh aus deinem Kasten«. Machen wir's kurz: Er zitiert mit dem Titel nicht die Sintflut-Geschichte aus der Bibel 1, Mose 8, Vers 16, sondern aus Wilhelm Raabes Roman »Stopfkuchen«...
Titel seien wichtige Schlüssel seiner Bilder, behauptet M. Ganz in diesem Sinne machte Wolfgang Mattheuer seinen Sisyphus, eine Mischung aus Pawel Kortschagin und Hoppla-jetzt-komm-ich-Hans-Albers, und wenn er mit ihm etwas anderes als ein »Wir packen's schon!« gemeint haben sollte, pardon, dann hätte er ihn eben anders malen müssen. Nebenan wurde freilich in den »Übermütigen Sisyphos« von 1976 der »Sturz der marxistischen Ideologie« hineingeheimnist, und schon passte das locker gemalte Bildchen auch ins fremde Wohnzimmer. Darauf kann sich der Maler jetzt berufen, wenn er fast gebetsmühlenhaft wiederholt, er sei »kein Staatskünstler« gewesen: Seine bekanntesten Werke (die nicht a priori seine besten sein müssen) sind freilich eindeutig »DDR-Kunst«, wenn man den Begriff nicht ausschließlich ideologisch, sondern als Bezeichnung für eine Kunst definiert, die sich nur denen gänzlich erschließt, die mit dem Künstler im gleichen engen Boot zusammen saßen. Und auch seine bildgewordene »Kritik« an den herrschenden Machtverhältnissen (dass er alles schon früher »besser« wusste, kann man seinen im Druck erschienenen gebündelten Tagebuchaufzeichnungen entnehmen) war wohl eher verhalten: Außer Womackas kompositorisch Paul Gaugin, inhaltlich der Vorstellung »Flakhelfer und BdM-Mädel« entlehnten »Jungen Paar am Strand« wurden keine anderen Malstücke als die seinen durch Reproduktionen in nahezu allen staatseigenen Presseerzeugnissen populär gemacht.
Das hatte freilich weniger mit der künstlerischen Qualität dieser Arbeiten zu tun: Mattheuer wurde im verwirrenden »Brot und Spiele«-Spiel einfach als farbenschillerndes Kampfhähnchen ge- und missbraucht, dessen bunte Federn zudem für die fremden Nächsten so hübsch exotisch schimmerten, dass man sie sozusagen gegen Bananen eintauschen konnte. Die wesentlich weniger »volkstümlichen« Bilder der »Staatskünstler Sitte, Tübke und Heisig« hingegen kamen dem gemeinen Volk in den Massenmedien eigentlich nie vor die Augen. Offensichtlich gab es also selbst bei den »prominenten Vorzeigeidioten« (wie Heinrich Böll, sich einschließend, einmal die Künstler nannte) noch Abstufungen. Und auch Mattheuers starrsinnige Behauptung, er sei »immer ein deutscher Maler gewesen«, resultiert letztlich aus der Angst, auf Grund seiner Herkunft als »provinziell« zu gelten. Diese Denkweise ist es allerdings. Denn ein Maler ist ein Maler, wenn er allgemein Gültiges unabhängig von der Wetterlage in seinem Heimatkaff sichtbar zu machen vermag.
Und das gelingt M. seltsamerweise ausgerechnet mit seinen mittlerweile zu Recht gerühmten Landschaftsdarstellungen, in denen sich Ruhe und Bedrohung durchdringen und die Horizonte eben nicht als Grenzen der Welt erscheinen. Ja, immer, wenn er gerade einmal nicht mit nun doch deutscher Kleinlichkeit (oder sagt man: »Gründlichkeit«?) den Pinsel zur Belehrung schwingt, gelingen ihm deutliche und schöne Aussagen über die Zeit und vermutlich darüber hinaus: Die »Eingeschneite Aktion« (1980), zwei in bizarrer Bewegung erstarrte Gestalten, die sich, so hofft man, nach der Schneeschmelze wiederbeleben werden, sind beeindruckender als alle seine »Ikarus«-Deutungen zusammen. Nun aber steht man wieder vor dem 1973 liebevoll gemalten Bild »Hinter den sieben Bergen«, das einst zu den Unzufriedenen mit großer Gelassenheit von der heiteren Vision des »Osterspaziergangs« sprach, wobei die Betrachter sich durchaus bewusst gewesen sind, dass die Verwandlung der Delacroixschen Freiheitsgöttin in eine gelöste Volksfest-Gestalt eine, wenngleich sympathische, Illusion bleiben würde. Schon deshalb wäre ihnen Anfang der Siebziger die westliche Auslegung, es handele sich bei diesem Bild um »eine Aufforderung zur Republikflucht«, gar nicht in den Sinn gekommen. Ebenso wenig freilich Mattheuers Eigeninterpretation, er habe mit diesem Werk auf die »Ereignisse in Prag« reagiert: Im Holzschnitt zwei, im Ölbild fünf Jahre später? Und jedes Mal ohne ein sichtbares Zeichen der gewaltsamen Beendigung einer sozialistischen Anstrengung? Nicht nur dieses Bild wird lange Zeit brauchen, um sich von den nachgelieferten Erklärungen seines Schöpfers zu erholen.
In Chemnitz sind die Ausstellungsmacher freilich auch noch auf die Idee gekommen, neben das berühmte Bild die mit »Hinter den 7 x 7 Bergen« betitelte Leinwand von 1993 aufzuhängen. Es soll wohl auf Kontinuität im Schaffen des Bildermachers hinweisen, ist aber nur eine verworren bunte, mit Krümelkäse überfrachtete Version des Mattheuerschen Klassikers, inhaltlich nichts als die bloße Konstatierung gegenwärtiger Zustände, und zudem flüchtig statt expressiv gemalt. Also einer der großformatigen Versuche des Malers, mit gesellschaftskritischem Gestikulieren Aufsehen wie ehedem zu erregen. Dabei wäre es allerdings voreilig zu sagen, diese unsensible Malweise sei nun einmal der Altersstil des Meisters. Es ist der Stil seiner Verkündigungs-Bilder seit Mitte der Siebziger, seit »Und immer wieder: Trotz alledem!« (1976) über die wirren Arbeiten »Kein Ende, irgendwann...?« (1968) und »Die große Konfusion« (1993) bis zum »Nichts Neues im neuen Jahrhundert« (2002). Letzteres erinnert übrigens peinlich an des Meisters 1974 gemalten und seit langem nicht mehr in der Öffentlichkeit gesichteten makabren Schinken »Requiem für Victor Jara«. Kein Kommentar.
Die Malweise des Geschichtenerzählers M. ist da schon wesentlich differenzierter, aber außer den Landschaften sind Bilder, die ganz auf die Wirkung von Farbe und Sujets vertrauen, eher selten. Nach dem geheimnisvollen »Grauen Fenster« von 1961 schafft der Bildermacher, beginnend mit jenen verkrampften Gummipuppen, die als »Schwebendes Paar« (1970) verstanden werden sollten, zunächst eine Vielzahl seiner anekdotischen Darstellungen, die zum Teil doch mehr überdimensional vergrößerten Karikaturen gleichen. Und dann, 1973/74, sein wohl emotional bewegendstes Werk, »Die Ausgezeichnete«. Man könnte meinen, Mattheuer habe bis dahin die Kunst-Mündigkeit der Betrachter noch bezweifelt, nur aus diesem Grunde Vordergründiges auf die Leinwand gebracht und würde nun, nach der ungewöhnlich großen Resonanz auf das genannte Bild, mit größerem künstlerischen Selbstvertrauen an die Staffelei treten. Aber die aus persönlicher Betroffenheit entstandenen Arbeiten bleiben Einzelstücke wie »Drinnen, Draußen und ich« (1986), »Genesende (Ursula)« von 1990 (die in Bildanlage und Gesichtsausdruck der Dargestellten leider ein wenig zu sehr der »Ausgezeichneten« »nach-empfunden« ist); das im Gegensatz zu all seinen Liebespaaren wirklich erotische »Hemd im Wind« (1991) mit dem ebenfalls frisch gewaschenen T-Shirt im Hintergrund und das schmerzliche »Selbst« von 1996. Stattdessen begann er damals mit seinen plakativen Nacherzählungen klassischer Sagen für Bürger zwischen Kap Arkona und Fichtelberg sowie der Verfertigung der in Chemnitz aufgestellten, manchmal mit Farbspray bunt befleckten Statuen, deren Vorderfronten man zumeist bereits von zweidimensionalen Bildwerken kannte. Um diese hat er dann lediglich jede Menge Lehm drumrumgeknetet, weshalb die Presse diese Kunststückchen in überaus nobler Zurückhaltung gegenüber dem »gemachten Mann« gleich gänzlich verschweigt.
Da es aber dem Maler zu keiner Zeit an den künstlerischen Fähigkeiten mangelte, liegt die Vermutung nahe, die Seltenheit seiner aus innerer Befindlichkeit herausdrängenden Bilder resultierte aus einem Mangel an menschlich verallgemeinerbaren Erlebnissen, die ihm trotz seiner Zurückhaltung in persönlichen Dingen den Pinsel ebenso wie bei seinen sichtlich durchlebten Landschaften in die Hand gezwungen hätten.
Dies ist ein fragmentarer Versuch einer Begründung für ein bedauernswertes Defizit in Mattheuers bisherigem Werk, und man müsste die Œuvre der weiterhin unter dem offiziellen Verschweigen verborgenen Maler sichten, um zu einer gerechten Einschätzung der Stellung Mattheuerscher Bildfindungen innerhalb des Kontextes der in der DDR entstandenen Kunst zu kommen. Vielleicht lag das Ländle ja doch mitten in der Welt...
Kunstsammlungen Chemnitz, Theaterplatz1: Wolfgang Mattheuer-Retrospektive. Gemälde, Zeichnungen, Skulpturen. Bis 22.9., Di-So ...
Doch jetzt ist kein Grund mehr vorhanden, dem Künstler aus Dankbarkeit für seinen vermeintlichen Mut zu verschweigen, dass die Tragödie des Ikarus eigentlich in seinem Übermut begründet war, womit sich die Figur eben denkbar ungeeignet als Symbol für das »Streben und Scheitern« des Einzelnen erweist. Wer in dieser Geschichte Dädalos verschweigt oder nicht kennt, weil er sein Wissen über den Mythos secondhand erworben hat, muss sich schon gefallen lassen, dass man ihn der pseudointellektuellen Effekthascherei bezichtigt. Übertrieben? Da flüchtet zum Beispiel einer aus einem in Flammen stehendem Raum, in dessen Ecke etliche Werke Mattheuers rumstehen. Ins Ungewisse. Reste einer antiken Statue weisen ihm den Weg in die entgegengesetzte Richtung. Das Ganze heißt »Prometheus verläßt das (brennende) Theater«. »Bißchen nebulös, das mit dem Prometheus«, denke ich noch, da begegne ich dem Bild wieder. Es heißt nunmehr »Geh aus deinem Kasten«. Machen wir's kurz: Er zitiert mit dem Titel nicht die Sintflut-Geschichte aus der Bibel 1, Mose 8, Vers 16, sondern aus Wilhelm Raabes Roman »Stopfkuchen«...
Titel seien wichtige Schlüssel seiner Bilder, behauptet M. Ganz in diesem Sinne machte Wolfgang Mattheuer seinen Sisyphus, eine Mischung aus Pawel Kortschagin und Hoppla-jetzt-komm-ich-Hans-Albers, und wenn er mit ihm etwas anderes als ein »Wir packen's schon!« gemeint haben sollte, pardon, dann hätte er ihn eben anders malen müssen. Nebenan wurde freilich in den »Übermütigen Sisyphos« von 1976 der »Sturz der marxistischen Ideologie« hineingeheimnist, und schon passte das locker gemalte Bildchen auch ins fremde Wohnzimmer. Darauf kann sich der Maler jetzt berufen, wenn er fast gebetsmühlenhaft wiederholt, er sei »kein Staatskünstler« gewesen: Seine bekanntesten Werke (die nicht a priori seine besten sein müssen) sind freilich eindeutig »DDR-Kunst«, wenn man den Begriff nicht ausschließlich ideologisch, sondern als Bezeichnung für eine Kunst definiert, die sich nur denen gänzlich erschließt, die mit dem Künstler im gleichen engen Boot zusammen saßen. Und auch seine bildgewordene »Kritik« an den herrschenden Machtverhältnissen (dass er alles schon früher »besser« wusste, kann man seinen im Druck erschienenen gebündelten Tagebuchaufzeichnungen entnehmen) war wohl eher verhalten: Außer Womackas kompositorisch Paul Gaugin, inhaltlich der Vorstellung »Flakhelfer und BdM-Mädel« entlehnten »Jungen Paar am Strand« wurden keine anderen Malstücke als die seinen durch Reproduktionen in nahezu allen staatseigenen Presseerzeugnissen populär gemacht.
Das hatte freilich weniger mit der künstlerischen Qualität dieser Arbeiten zu tun: Mattheuer wurde im verwirrenden »Brot und Spiele«-Spiel einfach als farbenschillerndes Kampfhähnchen ge- und missbraucht, dessen bunte Federn zudem für die fremden Nächsten so hübsch exotisch schimmerten, dass man sie sozusagen gegen Bananen eintauschen konnte. Die wesentlich weniger »volkstümlichen« Bilder der »Staatskünstler Sitte, Tübke und Heisig« hingegen kamen dem gemeinen Volk in den Massenmedien eigentlich nie vor die Augen. Offensichtlich gab es also selbst bei den »prominenten Vorzeigeidioten« (wie Heinrich Böll, sich einschließend, einmal die Künstler nannte) noch Abstufungen. Und auch Mattheuers starrsinnige Behauptung, er sei »immer ein deutscher Maler gewesen«, resultiert letztlich aus der Angst, auf Grund seiner Herkunft als »provinziell« zu gelten. Diese Denkweise ist es allerdings. Denn ein Maler ist ein Maler, wenn er allgemein Gültiges unabhängig von der Wetterlage in seinem Heimatkaff sichtbar zu machen vermag.
Und das gelingt M. seltsamerweise ausgerechnet mit seinen mittlerweile zu Recht gerühmten Landschaftsdarstellungen, in denen sich Ruhe und Bedrohung durchdringen und die Horizonte eben nicht als Grenzen der Welt erscheinen. Ja, immer, wenn er gerade einmal nicht mit nun doch deutscher Kleinlichkeit (oder sagt man: »Gründlichkeit«?) den Pinsel zur Belehrung schwingt, gelingen ihm deutliche und schöne Aussagen über die Zeit und vermutlich darüber hinaus: Die »Eingeschneite Aktion« (1980), zwei in bizarrer Bewegung erstarrte Gestalten, die sich, so hofft man, nach der Schneeschmelze wiederbeleben werden, sind beeindruckender als alle seine »Ikarus«-Deutungen zusammen. Nun aber steht man wieder vor dem 1973 liebevoll gemalten Bild »Hinter den sieben Bergen«, das einst zu den Unzufriedenen mit großer Gelassenheit von der heiteren Vision des »Osterspaziergangs« sprach, wobei die Betrachter sich durchaus bewusst gewesen sind, dass die Verwandlung der Delacroixschen Freiheitsgöttin in eine gelöste Volksfest-Gestalt eine, wenngleich sympathische, Illusion bleiben würde. Schon deshalb wäre ihnen Anfang der Siebziger die westliche Auslegung, es handele sich bei diesem Bild um »eine Aufforderung zur Republikflucht«, gar nicht in den Sinn gekommen. Ebenso wenig freilich Mattheuers Eigeninterpretation, er habe mit diesem Werk auf die »Ereignisse in Prag« reagiert: Im Holzschnitt zwei, im Ölbild fünf Jahre später? Und jedes Mal ohne ein sichtbares Zeichen der gewaltsamen Beendigung einer sozialistischen Anstrengung? Nicht nur dieses Bild wird lange Zeit brauchen, um sich von den nachgelieferten Erklärungen seines Schöpfers zu erholen.
In Chemnitz sind die Ausstellungsmacher freilich auch noch auf die Idee gekommen, neben das berühmte Bild die mit »Hinter den 7 x 7 Bergen« betitelte Leinwand von 1993 aufzuhängen. Es soll wohl auf Kontinuität im Schaffen des Bildermachers hinweisen, ist aber nur eine verworren bunte, mit Krümelkäse überfrachtete Version des Mattheuerschen Klassikers, inhaltlich nichts als die bloße Konstatierung gegenwärtiger Zustände, und zudem flüchtig statt expressiv gemalt. Also einer der großformatigen Versuche des Malers, mit gesellschaftskritischem Gestikulieren Aufsehen wie ehedem zu erregen. Dabei wäre es allerdings voreilig zu sagen, diese unsensible Malweise sei nun einmal der Altersstil des Meisters. Es ist der Stil seiner Verkündigungs-Bilder seit Mitte der Siebziger, seit »Und immer wieder: Trotz alledem!« (1976) über die wirren Arbeiten »Kein Ende, irgendwann...?« (1968) und »Die große Konfusion« (1993) bis zum »Nichts Neues im neuen Jahrhundert« (2002). Letzteres erinnert übrigens peinlich an des Meisters 1974 gemalten und seit langem nicht mehr in der Öffentlichkeit gesichteten makabren Schinken »Requiem für Victor Jara«. Kein Kommentar.
Die Malweise des Geschichtenerzählers M. ist da schon wesentlich differenzierter, aber außer den Landschaften sind Bilder, die ganz auf die Wirkung von Farbe und Sujets vertrauen, eher selten. Nach dem geheimnisvollen »Grauen Fenster« von 1961 schafft der Bildermacher, beginnend mit jenen verkrampften Gummipuppen, die als »Schwebendes Paar« (1970) verstanden werden sollten, zunächst eine Vielzahl seiner anekdotischen Darstellungen, die zum Teil doch mehr überdimensional vergrößerten Karikaturen gleichen. Und dann, 1973/74, sein wohl emotional bewegendstes Werk, »Die Ausgezeichnete«. Man könnte meinen, Mattheuer habe bis dahin die Kunst-Mündigkeit der Betrachter noch bezweifelt, nur aus diesem Grunde Vordergründiges auf die Leinwand gebracht und würde nun, nach der ungewöhnlich großen Resonanz auf das genannte Bild, mit größerem künstlerischen Selbstvertrauen an die Staffelei treten. Aber die aus persönlicher Betroffenheit entstandenen Arbeiten bleiben Einzelstücke wie »Drinnen, Draußen und ich« (1986), »Genesende (Ursula)« von 1990 (die in Bildanlage und Gesichtsausdruck der Dargestellten leider ein wenig zu sehr der »Ausgezeichneten« »nach-empfunden« ist); das im Gegensatz zu all seinen Liebespaaren wirklich erotische »Hemd im Wind« (1991) mit dem ebenfalls frisch gewaschenen T-Shirt im Hintergrund und das schmerzliche »Selbst« von 1996. Stattdessen begann er damals mit seinen plakativen Nacherzählungen klassischer Sagen für Bürger zwischen Kap Arkona und Fichtelberg sowie der Verfertigung der in Chemnitz aufgestellten, manchmal mit Farbspray bunt befleckten Statuen, deren Vorderfronten man zumeist bereits von zweidimensionalen Bildwerken kannte. Um diese hat er dann lediglich jede Menge Lehm drumrumgeknetet, weshalb die Presse diese Kunststückchen in überaus nobler Zurückhaltung gegenüber dem »gemachten Mann« gleich gänzlich verschweigt.
Da es aber dem Maler zu keiner Zeit an den künstlerischen Fähigkeiten mangelte, liegt die Vermutung nahe, die Seltenheit seiner aus innerer Befindlichkeit herausdrängenden Bilder resultierte aus einem Mangel an menschlich verallgemeinerbaren Erlebnissen, die ihm trotz seiner Zurückhaltung in persönlichen Dingen den Pinsel ebenso wie bei seinen sichtlich durchlebten Landschaften in die Hand gezwungen hätten.
Dies ist ein fragmentarer Versuch einer Begründung für ein bedauernswertes Defizit in Mattheuers bisherigem Werk, und man müsste die Œuvre der weiterhin unter dem offiziellen Verschweigen verborgenen Maler sichten, um zu einer gerechten Einschätzung der Stellung Mattheuerscher Bildfindungen innerhalb des Kontextes der in der DDR entstandenen Kunst zu kommen. Vielleicht lag das Ländle ja doch mitten in der Welt...
Kunstsammlungen Chemnitz, Theaterplatz1: Wolfgang Mattheuer-Retrospektive. Gemälde, Zeichnungen, Skulpturen. Bis 22.9., Di-So ...
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