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Am Pult der S-Bahn - am Puls der Zeit

Triebwagenführer haben die beste Aussicht auf eine Stadt im ständigen Wandel

  • Bernd Röder, dpa
  • Lesedauer: 4 Min.

Sexy klingt die Berufsbezeichnung nicht: Triebfahrzeugführer. Aber »Lokführer« stimmt eben nicht, denn bei der Berliner S-Bahn sitzen sie nicht in einer Lokomotive, sondern in einem abgeteilten Raum an der Spitze des Zuges. »Tut mir leid«, murmelt Frank Grzegorczyk, weil zwei junge Leute die Treppe heraufstürmen, er aber mit der S-Bahn schon losgefahren ist. Er sagt das gut 30 Jahre nach seiner ersten Fahrt, der waschechte Berliner sitzt bereits seit 1981 am Pult.

Damals war er 18 Jahre alt, zu DDR-Zeiten konnte man noch so früh ans Steuer einer S-Bahn, heute muss man 21 sein. 1979 hatte er in Friedrichsfelde eine Lehre als Elektromonteur begonnen, sein Chef machte ihm den Bahnjob schmackhaft. Heute bildet der 49-Jährige selbst junge Leute aus. Ja, er mache das nach wie vor gerne, man bleibe am Puls der Zeit: »Das Schöne bei der S-Bahn ist, dass man sieht, wie sich alles verändert.« Er meint die Strecken mit ihren Bahnhöfen, aber auch die Gebäude und Straßen links und rechts davon.

Dass der Ruf der S-Bahn in den vergangenen zweieinhalb Jahren arg gelitten hat, ändert daran nichts. Das war nicht die Schuld der Triebwagenführer. Es lag an Mängeln an Rädern und Achsen, an unzureichender Wartung. Die jüngsten Probleme haben aber doch etwas mit Grzegorczyks Berufsstand zu tun. Es gibt bei der S-Bahn momentan 910 von ihnen - das seien etwa 50 Triebfahrzeugführer zu wenig, hat S-Bahn-Geschäftsführer Peter Buchner unlängst zugegeben. Deshalb fallen seit Wochen immer wieder Züge aus. Das ist vor allem für Fahrgäste in den Randzonen des S-Bahn-Netzes bitter.

Buchner hat vor dem Verkehrsausschuss des Abgeordnetenhauses zumindest eine Teilverantwortung eingeräumt. »Wir hätten das vielleicht etwas früher merken können«, sagte er. Aber auch neue Tarifregeln hätten die Lage verschärft, heißt es bei der S-Bahn: Zwei zusätzliche freie Wochenenden etwa, neue Dienstpläne, eine tägliche Bremsprobe und ein Urlaubstag mehr von diesem Jahr an.

Jetzt sollen möglichst schnell möglichst viele Kollegen ausgebildet werden. Bereits im Juli werden 100 zusätzliche Triebfahrzeugführer einsatzbereit sein, versprach Bahnchef Rüdiger Grube. Neue Mitarbeiter sind nach neun Monaten fertig, Lokführer aus anderen Bahnbereichen brauchen einen viermonatigen Ergänzungslehrgang.

Romantisch darf man sich die Arbeit im Führerstand nicht vorstellen. In kurzen, aber unregelmäßigen Abständen muss Grzegorczyk einen leuchtenden Knopf drücken oder ein Pedal treten, sonst wird eine Zwangsbremsung eingeleitet. Das ist die Sicherheitsfahrschaltung, die Sifa.

Bei tiefen Minusgraden und eisigem Wind geht Grzegorczyk raus auf den Bahnsteig, fertigt den Zug ab, wieder hinein in den geheizten Führerstand. Auf der Linie S46 vom Bahnhof Westend nach Königs Wusterhausen muss Grzegorczyk an den meisten Stationen aussteigen, weil es keine Aufsichtsperson mehr gibt. Dieses Wechselbad verträgt nicht jeder. »Nach 20-mal rein und raus tut einem schon der Hals weh«, sagt ein Kollege, den Grzegorczyk im Pausenraum am Bahnhof Südkreuz trifft.

Schon ein paar Meter nach der Abfahrt in Westend kommt eine Meldung aus der Zentrale: »Hilflose Person in einem Zug im Bahnhof Adlershof.« Bis dort sind es noch 37 Minuten, also kein Grund zur Sorge, meint Grzegorczyk. Und tatsächlich, fünf Minuten später schallt die Entwarnung aus dem Lautsprecher in der Kabine: »Notarzteinsatz in Adlershof beendet.« Die Strecke ist wieder frei.

Frei war die Strecke auch am 15. Dezember, aber kurz vor Schöneberg ging nichts mehr. Das Signal auf Rot. In der Betriebszentrale war der Strom ausgefallen, ein schwarzer Tag in der S-Bahn-Geschichte. Nach einer halben Stunde ging Grzegorczyk nach hinten, beruhigte die Fahrgäste. Eine Frau hatte Platzangst, eine andere musste auf die Toilette. Später führte er die Fahrgäste »mit Hilfe von sechs starken Männern« auf sicherem Weg zur nächsten Station. An diesem Wintertag überwiegen die freundliche Momente: Eine Mutter mit kleinen Kindern, die ihm von einer Brücke zuwinkt (und er zurück) und die morgendliche Wintersonne, die so stark scheint, dass Grzegorczyk mit verschmitztem Lächeln seine Sonnenbrille aufsetzt.

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