Der Untote
»Sergej in der Urne« von Boris Hars-Tschachotin
Am Ende bleibt nicht einmal die Asche in der Urne - sie wird vor Korsika ins Meer gestreut, mehr als dreißig Jahre nach dem Tod von Sergej Stepanowitsch Tschachotin (1883-1973). Zuvor hatte die Urne bei einem seiner acht Söhne in Paris gestanden - auf dem Schrank im Wohnzimmer. Der Urenkel Boris entdeckte sie dort - und geht auf eine Reise, weit zurück in die Familiengeschichte. Eine immer weitere Kreise ziehende Spurensuche. Der Urgroßvater hatte fünf Mal geheiratet, das letzte Mal mit über achtzig. Darum gibt es Menschen sehr unterschiedlichen Alters, die sich nun an ihn erinnern.
Eine Familiengeschichte zwischen Russland, Deutschland und Frankreich. Eine Zeitreise auch vom zaristischen Russland über Messina, wo er das große Erdbeben überlebt, weiter zur Oktoberrevolution, die er erst begeistert begrüßt, dann ablehnt, nach Heidelberg und Frankreich. Die Söhne tragen sämtlich eine Hassliebe auf ihren Vater mit sich, der immer wieder die Familien verlässt - nur den jeweils jüngsten Sohn nimmt er jedes Mal mit - und anderswo neu anfängt. Ein Mikrobiologe, der das Lichtskalpell erfindet, mit dem es erstmals gelingt, unter dem Mikroskop Zellen aufzuschneiden, der ehrgeizig den Kontakt zu den großen seiner Zeit sucht, wie Pawlow und Einstein. Mit ihnen wechselt er Briefe - ein umtriebiger Egomane, der sich auf seine höchst exzentrische Weise den großen Themen der Zeit widmet. Wie jemanden beerdigen, von dem es so viele Geschichten zu erzählen gibt, der so viele Menschen beeindruckt hat, die sich dann oft von ihm verraten fühlten?
Der Urenkel nimmt die Urne als roten Faden für eine Recherche im Zwischenreich von Erinnerung und Dokument, besucht vier der noch lebenden Söhne des Urgroßvaters, die in verschiedenen Ländern leben. Sollte man Sergej nicht endlich beerdigen? Aber die Geschichte, so erfahren wir schnell, hat eben doch kein schnelles Ende, das Vergangene ist weder vergangen noch vergessen. »Sergej in der Urne« ist ein ebenso persönlicher wie zeithistorischer Film über die untote Vergangenheit, die in den Köpfen der Lebenden weiter gespenstert. Wie beerdigt man jemanden richtig, also so, dass es mit der Vergangenheit versöhnt? Der Urenkel beherrscht in seinem Film die Kunst der Zwischentöne, aus denen erst Poesie erwächst - und Wahrheit.
Sergej Tschachotin war nicht nur ein Mikrobiologe von Format, er fühlte sich auch zum Propagandisten berufen. Unter den Nachkommen polarisiert diese Seite an ihm am meisten. Einer der Söhne kämpfte im Algerienkrieg und wurde danach zum Anhänger des Rechtspopulisten Le Pen. Ein anderer sucht wie sein Vater nach Symbolen zur Befriedung der Welt und veranstaltet eine Art Wallfahrt mit einem Madonnenbild, um die Bürgerkriegsparteien in Ex-Jugoslawien zu versöhnen. Tschachotin, der in den frühen dreißiger Jahren in Deutschland forschte, hatte nach massenwirksamen Symbolen im Kampf gegen Hitler gesucht. Die von ihm entworfenen »Drei Pfeile« wurden zum Gegensymbol zum Hakenkreuz an der von ihm mitinitiierten »Eisernen Front«.
Auf Französisch schrieb er ein Buch »Die Vergewaltigung der Massen«, in dem er über psychologische Massenbeeinflussung nachdachte, er ist ebenfalls Mitverfasser der »Grundlagen und Formen der Propaganda« von 1932. Dann ein ärmliches Leben auf der Flucht und schließlich die Rückkehr in eine Sowjetunion unter Chruschtschow. Aber auch diese wurde zur Enttäuschung, die wiederum nur Anstoß für neue große Hoffnungen gab. Ein unbefriedetes Leben voller Höhenflüge und jäher Abstürze, mit dem die Nachkommen bis heute ihre Mühe haben, ebenso legendenbildend wie legendenzerstörend. Aber darin auch exemplarisch für das 20. Jahrhundert. Unbedingt sehenswert.
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