Stunde der Wahrheit für USA-Bosse

Präsident Bush will Bilanzfälschern an den Kragen und steht selbst im Zwielicht

Bis gestern 17 Uhr Ortszeit mussten die meisten Chefs der 947 umsatzstärksten USA-Konzerne (mehr als 1,2 Milliarden Dollar pro Jahr) ihre Bilanzen »beeiden« - eine Zäsur mit unabsehbaren Folgen.

Osama bin Ladens neueste »Drohung an Amerika« zierte dieser Tage das Titelblatt des Londoner Satiremagazins »Private Eye«: »Vergesst den Terrorismus, ich werde Buchhalter.« In der Tat könnten US-amerikanische Spitzenmanager in ihrer grenzenlosen Gier schaffen, was der verhasste Oberterrorist mit dem Anschlag auf das New Yorker World Trade Center zumindest symbolisch demonstrierte - den Zusammenbruch des Systems. Denn schnell sollte sich nach dem Skandal um den Energieriesen Enron im Vorjahr zeigen, dass man da nur die Spitze des Eisberges gesehen hatte.
Milliardenschwere »Fehlbuchungen« und andere Manipulationen, Manager in Handschellen und Wirtschaftsprüfer vor Gericht ließen schließlich selbst Präsident George W. Bush an den Selbstheilungskräften des Marktes zweifeln. Der eifrige Verfechter einer uneingeschränkten Deregulierung stimmte nach langem Zögern einem Gesetz zu, das in jenem Kongressausschuss entstand, der sich mit der Enron-Affäre beschäftigte.
Bis gestern 17 Uhr Ortszeit nun mussten die Führungen der umsatzstärksten USA-Konzerne ihre Bilanzen - den letzten Jahres- und Quartalsbericht sowie andere relevante Dokumente - notariell beglaubigt einreichen. Auf der Website der Wertpapier- und Börsenaufsicht »U.S. Securities and Exchange Commission« füllten sich die entsprechenden Spalten in den vergangenen Wochen nur mühsam, und selbst wenige Stunden vor Ablauf der Frist fehlten am Mittwoch deutlich mehr als jene 200 Firmen - darunter die meisten Einzelhandelskonzerne und viele Technologieunternehmen -, deren Bilanzjahr vom üblichen abweicht und die ihre Stellungnahmen später einreichen können. Hier dürfte mancherorts bis zur letzten Minute kreativ an der Buchführung gebastelt werden, drohen doch bei falschen Angaben wie bei Aussageverweigerung drakonische Strafen.
Doch verweisen Fachleute auch auf die erheblichen Schlupflöcher des »Sarbanes-Oxlex Act«, die bei der Formel »Nach bestem Wissen und Gewissen« beginnen. Einige Firmen wie WorldCom, Qwest Communications und CMS Energy haben laut »New York Times« bereits angekündigt, dass sie der Anordnung nicht Folge leisten werden. Sie wollen vielmehr Erklärungen abgeben, warum sie den Termin nicht einhalten können. Da ohnehin eine fünftägige Verlängerungsfrist besteht, werden endgültige Ergebnisse der Aktion nicht vor Mitte nächster Woche vorliegen.
Gerade auch die vielen kleinen Anleger befürchten inzwischen, dass das gesamte Bilanzsystem auf tönernen Füßen steht. Schon die Skandale von Enron bis WorldCom haben Zehntausende um Arbeitsplatz und Altersvorsorge gebracht, die in den USA im Unterschied zu Deutschland im erheblich stärkeren Maße in Aktien angelegt ist. Der Kurs des WorldCom-Papiers etwa stürzte durch die schamlosen Betrügereien der Konzernspitze auf zwölf Cent ab. Die Verantwortlichen für die mit 104 Milliarden Dollar Schulden größte Firmenpleite in der USA-Geschichte allerdings haben derweil satte 104 Millionen Dollar in Form von Gehältern, Boni und Aktienverkäufen verdient.
So umstritten wie die Wirksamkeit des von Bush vor zwei Wochen unterzeichneten Gesetzes gegen Bilanzbetrug sind seine und die Verstrickungen von Vizepräsdient Cheney in dubiose Geschäfte aus ihrer eigenen Managerzeit. Dem Präsidenten werden zum Beispiel Insidergeschäfte vorgeworfen. Wie die »Washington Post« enthüllte, soll er wie auch andere Bosse der Ölgesellschaft Harken Energy Corp. vertrauliche Informationen genutzt haben, um Aktienverkäufe im großen Stil zu tätigen - bevor der Kurs angesichts von Millionenverlusten der Firma in den Keller stürzte. Hier wie im Falle seines Vize Dick Cheney laufen Untersuchungen der Börsenaufsicht SEC. Der einstige Chef des Industriekonzerns Halliburton soll nicht nur die Irak-Sanktionen Washingtons umgangen und mit dem Erzfeind in Bagdad gute Geschäfte gemacht haben, ihm wird auch vorgeworfen, durch Buchungsmanipulationen den Aktionären erheblich geschadet zu haben. Selten stand »Corporate America« so schlecht da.
Zahlen und Fakten

Enron, Tyco, Kmart, WorldCom, Global Crossing, Xerox, Adelphia Communications, Computer Associates, Dynegy, QWest, Rite Aid, Merck - als die Liste der Bilanzfälscher immer länger wurde und Schatten auch aufs Weiße Haus warf, versuchte USA-Präsident Bush die Sicherheitsleine zu ziehen. Er forderte eine verschärfte Kontrolle, Haftung und Ahndung falscher oder irreführender Firmeninformationen. Gesetzliche Grundlage des neuen Regelwerks ist der Ende Juli im Washingtoner Kongress verabschiedete »Sarbanes-Oxley Act«. So sollen die Vorstandsvorsitzenden (Chief Executive Officers, CEO) und Finanzchefs (CFO) der Konzerne mit einem Jahresumsatz von mehr als 1,2 Mrd. Dollar künftig auf ihre Bilanzen »vereidigt« werden und für falsche Angaben persönlich haftbar sein - mit Geldstrafen bis zu fünf Millionen Dollar und Haft bis zu 20 Jahren Haft. Verurteilte Manager werden mit »Berufsverbot« belegt. Da das Gesetzeswerk festlegt, dass alle Firmen, die der US-amerikanischen Börsenaufsicht SEC ihre Bilanzen vorlegen, den neuen Regeln unterliegen, sind auch die an der Wall Street gelisteten ausländischen Unternehmen betroff...

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